Desorientiert steht ein Mann am Tatort eines Frauenmordes und versucht der Polizei, die er selbst gerufen hat, Auskunft zu geben. Doch sein Gedächtnis ist so fragil, wie die Verhältnisse, in denen er lebt. Die Geschichte spielt unter Menschen, denen kein Begriff so fremd klingt wie dieser eine, um den es geht: Heimat.
Die Figuren versuchen sich im großen Gleichgültigkeitsfeld der Stadt Hannover zu behaupten. Da ist der Ich-Erzähler, der sein fragmentarisches Ich zu ergründen versucht – teils unter Mitwirkung entfremdeter Dialoge mit einem Internet-Psychotherapeuten. Da ist der Polizist, der die Wahrheit über mehrere Frauenmorde herauszufinden versucht – nicht zuletzt aus privaten Gründen. Da sind die Mitwohnerinnen und Mitemigrantinnen des Protagonisten, die wie er an der Straßenkreuzung Hannover gelandet, sich mit teils üblen Jobs durchschlagen. Da sind schließlich einige dem phantastischen Realismus entsprungene Figuren, die im Laufe der Geschichte immer realeren Charakter annehmen. Ihr Rückgriff auf archetypisches Dasein stellt sich mehr und mehr als eine Antwort auf das Nicht-Leben ihrer urbanen Umgebung heraus.
So seltsam, wird allmählich deutlich, ist es gar nicht mit Speer und Lendenschurz durch den nächtlichen Stadtwald zu streifen, als allwissender Zwerg die Gesellschaft zu beobachten oder als Kind Bärinnen vor der Apotheke zu sehen.
Espen, der Taxifahrer hat – scheint’s – alles im Griff, arbeitet sich geschickt durch die polizeilichen Vernehmungen und spielt auf seinen Taxifahrten freundlich mit den Einsamen, die er fährt. Tatsächlich ist die Perspektive des Taxifahrers eine gelungenen Herangehensweise an den letzten Hauptdarsteller des Buches: Hannover. Die aus dem Wagen beschriebenen Atmosphären gehören zum Besten und Treffendsten was von der stets Um- und Undefinierten geschrieben worden ist. Muszer erreicht darin ein ähnliches Niveau, wie es zuletzt Karl Jacob Hirsch in dem Roman „Kaiserwetter“ mit dem Hannover seiner Zeit vor siebzig Jahren gelang.
Der Autor zeigt viel schrecklich Wahres und wahrhaft Schreckliches. Die Lektüre des Romans verlangt starke Nerven und viel Lebensoptimismus vom Leser, der im Verlauf des Buches erheblich auf die Probe gestellt wird. Muszer erspart sich und uns nichts, schönt nichts und niemanden. Wenn es richtig eklig wird – und das passiert einige Mal ist es nicht der Kunstgriff der Pop-Literaten, die Bekanntschaft mit dem „wirklichen Leben“ vorzutäuschen versuchen.
Tennessee Williams, der amerikanische Dramatiker, nach Hannover verirrt oder verbannt und an der Nicht-Aufgabe seines Humanismus leidend hätte wohl Ähnliches zu Papier gebracht. Manchmal wird es aber auch lustig, etwa wenn Muszer den althannoverschen Glauben, man könne alles aber auch wirklich alles an der Volkshochschule lernen für seine Geschichte nutzt.
Das Werk ist Muszers zweites deutsches Buch, dem eine lange polnische Schreibpraxis voraus geht. „Der Echsenmann“ ist kein Trendbuch, sondern die bittere bis zum Ende geführte Realisierung der Wahrheit, dass wir alle zunehmend das Dasein der in jeder Beziehung Unbehausten führen. So ist es konsequent, wenn sich das Ende im archetypisch belebten Stadtwald abspielt. Wenn es schließlich heißt: „Dann starb er endlich.“ fühlt man sich an den Schlusssatz von Jack Londons „König Alkohol“ erinnert: „Dann verließ ihn alles Wissen.“
Vogelfrei (Café des Ostens), 2002
© Roland Balzer
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten