Der Menschenesser (1)

KAPITEL EINS,
in dem ich plane und aufbreche

Als meine dritte Frau zurückkam, war mein Entschluss zur Expedition gereift. Dies war, fand ich, der einzige Weg, alle gegenwärtigen und kommenden Probleme loszuwerden, die mir dieses undankbare und gemeine Weibstück bereitete. Ob Melissa meine Idee gefiel, bezweifle ich, denn sie schlug mir die Badezimmertür vor der Nase zu und ward nicht mehr gesehen. Ihr Schweigen deutete ich zuerst als idiotische Kraftprobe, doch nach einigem Nachdenken wollte es mir als Einverständnis, ja als Zustimmung zu meinem vielverheißenden Projekt scheinen. Erst am späten Abend verließ sie das Bad, und sie hätte von mir aus noch länger darin verweilen können, denn ich hatte bereits die öffentliche Toilette benutzt und brauchte das Örtchen nicht mehr aufzusuchen. Melissa nahm nichts zu sich, obwohl sie es hätte tun können, im Kühlschrank lagen noch zwei Eier und ein halber Sahneschmelzkäse. Sie machte einen Spaziergang. Auch das hielt ich für eine Kraftprobe und machte mich daran, stark und zuversichtlich, die Pläne für die Expedition zu auszuarbeiten. Das Kapitel Melissa war für mich abgeschlossen.

Zuerst räumte ich allen unnützen Kram von meiner Tischplatte, dann erst breitete ich ehrfürchtig die Grüne Enzyklopädie (so nannte ich das umfassendste Nachschlagewerk über die Welt von gestern und heute, das ich je besessen) vor mir aus. Ich beschloss, mir keine Aufzeichnungen zu machen, damit mich keiner fände. Ich musste den ganzen Plan im Kopf haben.

Als ein verregneter Morgen heraufdämmerte, war ich fertig. Geschafft, dachte ich erleichtert. Jetzt gilt es nur noch, den Plan in die Tat umzusetzen. Ich wusste noch nicht wie, aber ich war entschlossen, mir keine Sorgen im Voraus zu machen, denn derlei schlägt mir auf den Magen. Von nebenan hörte ich Melissa schnarchen. Die Arme war, als sie um Mitternacht oder später heimgekehrt war, auf einem Küchenschemel eingeschlafen. Ihre Dünste überraschten mich nicht, sie stank immer nach billigem Fusel, wenn ihr Leben nicht so ablief, wie sie sich das im Kindergarten erträumt hatte. Ihr Schnarchen klang, als wenn eine schrottreife Erntemaschine über ein steiniges Feld holperte. Es war mir nie gelungen, Melissas sonderbarer Atmungsart durch die Kehle etwas abzugewinnen. Dabei heißt es, ein Mensch, der wirklich liebt, liebt ohne Wenn und Aber. Nun, offenbar bin ich zu großen Gefühlen nicht fähig. Übrigens war das Schnarchen der eigentliche Grund unserer Trennung. Ich erzähle kurz die Vorgeschichte, um den Charakter meiner dritten Ehefrau deutlich zu machen.

In einer Sternennacht vor einem halben Jahr, als die alkoholisierte Melissa überaus anmutig schnarchte, das heißt – in den Wettstreit mit der oben erwähnten Landwirtschaftsmaschine getreten war, muss etwas in mich gefahren sein. Ich kann nicht einmal mir erklären, warum ich das Folgende getan habe. Ich klebte Melissas Nase und Mund mit einem chinesischen Heftpflaster zu. Jeder, der es einmal mit einem solchen Pflaster zu tun hatte, weiß, wie fest es klebt. Melissa jedenfalls begann plötzlich innerlich zu beben, spannte sich wie die Saite eines Kontrabasses, krümmte den Körper zu einem Bogen und schlug die Augen auf. Sie sah verängstigt aus, was erstaunlich war, denn im Zimmer waren nur wir beide, und keiner von uns war ein Geist. Einen ähnlichen Blick habe ich irgendwann in einem Stummfilm gesehen, an dessen Titel ich mich leider nicht erinnere. Sie riss das Pflaster ab. Das tat ihr sicher weh, denn das Pflaster klebte fest an dem kleinen schwarzen Schnurrbart, der die Oberlippe des Melissenmundes schmückte. Jedenfalls verzog sie ihr Gesicht dermaßen, als müsste sie ein Dutzend gebackene, in Affenhirn servierte Schnecken aufessen, und schrie mir ins Ohr: »Du wolltest mich umbringen, du widerlicher Kannibale!«

Oft habe ich darüber nachgedacht, warum meine Frau mich in Augenblicken höchster Erregung einen widerlichen oder ekelhaften Kannibalen nennt. Ich dachte auch kurz darüber nach, fand aber auch diesmal keine vernünftige Erklärung. Vielleicht hätte ich sie gefunden, aber die weiteren Aktionen Melissas folgten zu schnell, und ich bin hastige Bewegungen nicht gewöhnt, weil ich der Meinung bin, dass Eile ausschließlich beim Fangen von Flöhen und Taschendieben angebracht ist. Jedenfalls riss Melissa sich das chinesische Pflaster von der Nase, und ohne zu fragen, schlug sie mir ihre Faust dicht neben das Auge. Ich bemerkte wohl, dass sie das Pflaster unordentlich auf den Fußboden geworfen hatte, aber ich wies sie nicht darauf hin, dass man es sorgfältig zusammenkniffen und noch einmal benutzen könnte, ich hatte dafür wirklich keine Zeit. Die Ereignisse der damaligen Nacht überstürzten sich dermaßen, dass ich keine Gelegenheit hatte, sie auf die unerhörte Verschwendung aufmerksam zu machen, und ich hole dies hiermit nach.

Melissa fing an, mich durch die ganze Wohnung zu jagen, was etwas hochtrabend klingen mag, aber nicht bedeutet, dass die Distanz lang war. Im ganzen brachten wir etwa hundert, vielleicht hundertzwanzig Meter hinter uns, denn welche Strecke kann man schon in einem kleinen Zimmer, einem kleineren Flur, einer noch kleineren Küche und einem winzigen Bad zurücklegen. Melissa sah schrecklich aus, wie sie so hinter mir her galoppierte. Sie schlug um sich und grölte wie ein besoffener Indianer. Blut lief ihr aus der Nase, das sie sich mit dem spitzenbesetzten Ärmel ihres Nylonpyjamas abwischte. Den hatte ich ihr irgendwann mal zum Namenstag geschenkt. Ich hatte damals meinen halben Lohn dafür ausgegeben. Im Vorbeilaufen wies ich meine Frau auf ruhige, höfliche Art darauf hin, dass sie mit ihrem Menschenblut unseren neuen Läufer im Flur beschmutzte, den ich für mein schwer verdientes Geld gekauft hatte, mal ganz abgesehen vom Pyjama und dem Linoleum in der Küche. In diesem Moment heulte sie auf wie ein Kojote (ich habe noch keine Kojoten heulen hören, aber sie heulen ganz sicher wie Melissa) und knurrte mit zusammengebissenen Zähnen.

»Halt’s Maul, du ekelhafter Kannibale!«

In jener Nacht war ich derjenige, der das Haus verließ. Ich kann nicht sagen, dass ich es erhobenen Hauptes tat, ich hatte es viel zu eilig, halte mir aber zugute, dass ich mit Würde ging. Dazu verhalf mir noch der gut platzierte Tritt meiner Frau, der genau mein Steißbein traf, was eine vorübergehende Lähmung meiner Gliedmaßen zur Folge hatte. Aber eigentlich war dieser Tritt belanglos, weil ich mich ohnehin entschlossen hatte, die Wohnung mit Würde zu verlassen, egal, was auf mich zukäme.

Am nächsten Morgen, als ich mich in die Wohnung zurückschlich, gab es auf dem Läufer und auf dem Küchenfußboden keine Spur des nächtlichen Blutvergießens. Melissa war auch verschwunden. Ich hielt sie eigentlich für eine ganz anständige Frau, nur ein bisschen meschugge. Mit dieser Überzeugung lebte ich so lange, bis sie wieder in mein ruhiges Leben platzte, das ich, frei von Abenteuern und sexuellen Spannungen, führte.

Jetzt bricht der Tag an, die Vögel toben im Lindenbaum, die Linde blüht, und ich kann meiner Frau den sinnlosen Tritt immer noch nicht verzeihen, der, wie die Staatsanwältin (eine sehr nette und ausgeglichene Frau, mit der ich viele angenehme Augenblicke in ihrem Sprechzimmer im zweiten Stock, dritte Tür rechts, verbracht habe) in der Anklageschrift, meine Körperverletzung betreffend, festgehalten hatte, »die Funktionsfähigkeit meines Organismus länger als drei Tage beeinträchtigte«. Ein halbes Jahr ist viel zu kurz, um so etwas zu vergessen. Ein halbes Jahr ist nicht genug, um so etwas zu verzeihen. Ein halbes Jahr ist nur ein halbes Jahr ‑ die Zeit und nicht mehr.

Soweit es mich betrifft, war der Plan also fertig, und ich konnte mich jetzt auf die Socken machen. Wie ich schon sagte, blieb nur noch ein Problem zu lösen. Ach nein, davon sprach ich noch nicht, also tue ich es jetzt. Wie konnte ich am besten aus der Stadt kommen? Einen Reisepass zu kriegen, würde ein halbes Jahr oder länger dauern, außerdem besaß ich keine Einladung in das Land, in das ich reisen wollte, und ohne die würde bei der Miliz niemand auch nur mit mir reden, zumal ich dort keinerlei Beziehungen hatte. Selbst wenn ich die Beamten vom Sicherheitsdienst, die Zugang zu den Akten haben und Reisepässe ausstellen, auf irgendeine Weise bestechen würde, blieben trotzdem noch die normalen Lind die Transitvisa, die ich als Bürger dieses merkwürdigen und von den Großmächten nicht geliebten Landes haben musste. Dazu kämen noch Zug- und Busfahrkarten, Flugtickets, Zwangstimtausch von Devisen, verschiedene Schutzimpfungen, eine Genehmigung der Militärmission in G. über die Dauer meines Auslandsaufenthaltes, dann Stempelgebühren Lind andere Gebühren etc., etc. Wenn ich das alles erledigen müsste, würde ich wahrscheinlich nie wegkommen, eher eines natürlichen Todes sterben, wenn mich nicht ohnehin der Schlag traf. Ich musste die Sache mit meiner Ausreise entschlossen angehen, auf eine Art und Weise, die dieser Situation angemessen war. Und ich wusste schon wie.

Ich packte die wichtigsten Sachen in eine Plastiktüte und brach zu meiner Expedition auf. Damals wusste ich noch nicht, dass ich niemals zurückkehren würde. Damals wusste ich auch noch nicht, dass eine Rückkehr nicht möglich sein würde. Damals wusste ich so viele andere Dinge nicht. Leise schloss ich die Wohnungstür hinter mir ab und legte den Schlüssel unter die Fußmatte.

Auf Zehenspitzen lief ich die Treppe hinunter. Ich hielt mich nicht mal am Geländer fest.

 

Aus dem Roman „Der Menschenesser“.

© Dariusz Muszer