Das verrückte Hotel Deutschland
Von Dariusz Muszer
Artur Becker hat sich wohl eine ziemlich abgefahrene Art von Werbung ausgedacht, während er sein neuestes Werk schuf: nämlich einen Hotelroman. Denn es ist eine Reklame für ein Produkt, das sich in einer Entwicklungsphase befindet. Eine Phantasie also, im doppelten Sinne. Denn es handelt sich um ein Hotel, das in Wirklichkeit noch nicht fertig gebaut, geschweige denn eröffnet wurde, das aber dennoch in dem Hotelroman Der unsterbliche Mr. Lindley seit einiger Zeit eifrig betrieben wird. Und es handelt sich auch um einen Roman, der wie ein goldenes Schloss aus einem deutsch-polnischen Märchen in der Luft hängt. Nichts als Lug und Trug, und trotzdem muss der Hauptheld dieser Geschichte sein Glück mit einer russisch-jüdischen Prinzessin versuchen.
Das Hotel Lindley befindet sich in Frankfurt am Main, einer Stadt, in der laut Melderegister 51,2 Prozent Einwohner ausländische Wurzeln haben und der Rest aus einheimischen Muttersprachlern, hauptsächlich Westgermanen, besteht. In dieser Stadt voller Banken, Hochhäuser, Dönerbuden, türkischer Disco-Musik und männlicher Nackedeis, die den heiligen Main mit ihren Surfbrettern begatten, soll sich das Jahrestreffen einer Kleinfamilie abspielen. Sie besteht aus modernen people in motion, Menschen, die infolge des Kalten Krieges sowie des gleich danach herrschenden Neoliberalismus ständig in Bewegung bleiben müssen, um zu überleben. Einst haben die Familienmitglieder zu viert im sozialistischen Polen gelebt, dann sind sie nach Deutschland übersiedelt. Auf ihre alten Tage sind die Eltern Klarysa und Henryk nach Kanada ausgewandert und seitdem pendeln sie verzweifelt und ruhelos zwischen drei Staaten und zwei Kontinenten.
Jack, ihr Sohn, versuchte, als Musiker in London Fuß zu fassen, doch ohne Erfolg; er musste in die Bundesrepublik zurückkehren. Seit seiner Rückkehr arbeitet er im Hotel Lindley als Pilzzüchter und Gitarrist. Und er kann dort im Lindleyschen Tonstudio seine Kompositionen aufnehmen. Zwei Kinder hat er und ist mit einer Einheimischen verheiratet, deren Nachnamen er angenommen hat, um die Spuren seiner Herkunft zu verwischen.
Man kann ihm das aber nicht unbedingt übel nehmen. Die Familie heißt nämlich Brikschinski, und dieser Nachname könnte den Eindruck erwecken, als hätte der Autor auf einmal Lust verspürt, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Denn Brikschinski wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von dem polnischem Brykszyński abgeleitet und beim Verdeutschen so verunstaltet, dass ein wunderbarer Zungenbrecher sowohl für deutsche, als auch für polnische Sprachorgane entstanden ist. Oder aber ein echter Hingucker für Albaner und alle anderen Europäer.
Zuerst aber lernen wir Robert, den ältesten Sprössling der Brikschinskis, kennen. Er ist 49 Jahre alt, bekleidet den Posten des Direktors des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie in Berlin, hat zwei erwachsene Kinder, ist mit Karolina verheiratet, die sich gerade in Warschau aufhält, wo sie auf der Straße für Recht auf Abtreibung für ihre Schwester Iwona kämpft, die allerdings keine Kinder in die Welt setzen will. Roberts Gattin bleibt bis zum Schluss ein telefonischer Running Gag, sie wird die Frankfurter Hotelbühne nicht betreten. Unterdessen wird Herr Professor von einem Palästinenser, der sofort polnischen Akzent seines Fahrgastes erkennt, in das Hotel Lindley kutschiert. Und so fängt das verrückte Wochenende an. Louis de Funès und Jacques Tati hätten sich bestimmt nicht geschämt, in dieser traurigen Burleske mitzuwirken.
Im Hotel wird Robert von Romy Schneider empfangen. Sie arbeitet da als Concierge und gehört zu einigen mehr oder weniger berühmten, aus der Welt- und Kulturgeschichte bekannten Personen, die im Lindley beheimatet sind und je nach Bedarf herumgeistern – insbesondere dann, wenn die Pilze aus dem masurischen Wald ins Spiel kommen und zu wirken beginnen. Später werden auch Frank Zappa, kleinwüchsiger Herr Hiroshima, Rolf Dieter Brinkmann, William Heerlein Lindley und sogar Pontius Pilatus (als P.P.) in Erscheinung treten. Der Letzte wird versuchen, Robert Brikschinski zu berichten, was er in Bulgakows Roman Der Meister und Margarita vergessen hat, der Nachwelt zu berichten. Doch in einer Gesellschaft, die aus lauter Möchtegern-Statthaltern besteht und die gern jede Wahrheit zur Strecke bringt, wurde schon längst alles gesagt und verraten. Pontius Pilatus muss schweigend abtreten.
Alles in dem Roman ist eine Ware. Man bewegt sich, also muss man überall zahlen. Für das Hotelzimmer, fürs Essen, für das Taxi, für die Familie, für die Liebe, für alte und neue Erinnerungen, für Kurzlebigkeit in der Flüchtigen Moderne. Dass man das nicht immer mit dem Plastikgeld tut, ist selbstverständlich. Denn der Mensch an sich ist auch eine Ware, ein Konsumprodukt, wie es Zygmunt Baumann treffend bezeichnet. Für das Recht auf Leben, sein Grundrecht, muss der Mensch mit sich selbst, mit den Elementarteilchen und Imponderabilien seines Ichs zahlen. Und wenn er sich weigert mitzuspielen, bleibt er draußen ‒ die Gesellschaft braucht ihn nicht mehr. Bürger ohne Smartphon, ohne Internetzugang und ohne Präsenz in sozialen Medien sind heutzutage gefährlicher als einst die Pestkranken im Mittelalter. Es sind Rebellen, die sich nicht orten lassen wollen. Und im Internet wird man beschimpft und bespuckt, was Robert zu spüren bekommt, als er die Selbsthilfegruppe Anonyme Verbrecher ins Leben ruft und einen Shitstorm dafür erntet.
Artur Becker ist auf eine wundersame Weise gelungen zu zeigen, was mit Menschen passiert, wenn sie ihre Heimat verlassen und völlig unvorbereitet in ein Wohlstandsland kommen: Sie werden innerlich zerrissen und laufen Gefahr, hohl zu werden. Oder aber sie mutieren zu Vollpfosten. Wenn sie sich aber anstrengen und ständig unter Kontrolle haben, können sie gar nicht so schlecht funktionieren, sie können sogar richtig absahnen. Denn Geld ist doch da. Deutschland ist reich. Und es will noch reicher und bedeutender in der Welt werden. Das ist ein Segen, ein Fluch und eine ansteckende Krankheit zugleich.
Um aber richtig dazuzugehören muss man Abstriche machen, auf vieles verzichten und sich einordnen lassen. Auf prägnante Weise zeigt Artur Becker in seinem Roman, wie das zu bewerkstelligen ist. Der Autor arbeitet quasi weiter an Musils Menschen ohne Eigenschaften, die sich zu nichts ernsthaft bekennen wollen und sich jeder Festlegung entziehen. Wenn man nichts ist, bekommt man alles. Er schreibt über verlorene Seelen und entwurzelte Geister, die sich an eine neue, postindustrielle Weltordnung schweigend anpassen. Alles ist beliebig und möglich, alles wird nur benutzt, nicht mehr erlebt. Es gibt zwar noch ein Häufchen Wissen aus der alten Heimat, aber es wird nicht angewandt. Denn alles, was noch zählt, passiert heute und jetzt. So sind die Regeln. Nachahmen ist besser als Nachdenken. Dabei interessiert sich keiner wirklich für das Land, in dem er gerade lebt oder, wie Larissa, eine russisch-jüdische Künstlerin aus Venedig, nur zum Verweilen da ist. Deutschland wird als eine goldene Kuh betrachtet, um die man sich nicht zu kümmern braucht ‒ es reicht, wenn man lernt, wie man sie melken kann. Ja, der Barde aus Bartoszyce an der Łyna stellt den Zuwanderern kein gutes Zeugnis aus. Doch es bedeutet nicht, dass er ‒ selbst ein Fremder in Niedersachsen ‒, aufgehört hat, seine Pappenheimer, über die er seit seinem Debüt im Jahr 1997 immer wieder schreibt, weiter zu lieben.
Prof. Dr. med. Brikschinski gehört zu den merkwürdigsten Figuren, die sich zum polnischen Kaffeekränzchen in Hotel Lindley getroffen haben. Er ist vielseitig, gebildet und ab und zu sogar witzig. Doch ihm unterlaufen solche gedanklichen Ausrutscher, dass man ernsthaft überlegt, ob er vielleicht doch nicht zu den Personen gehört, die sich durch besondere Dummheit auszeichnen. Zum Beispiel macht er sich aus heiterem Himmel große Sorgen um den Antisemitismus in seiner alten Heimat. Dass die Juden das heutige Polen für das sicherste Land in Europa halten, scheint er außer Acht zu lassen. Nach der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gab es 2017 in Polen lediglich 73 antisemitische Zwischenfälle, im Vergleich dafür bleibt Deutschland mit 1504 antisemitischen Übergriffen ein Spitzenreiter, der sich nur mit Großbritannien messen kann. Darüber aber zerbricht sich Herr Brikschinski nicht den Kopf.
Zum Glück gibt es in dem Buch nicht nur angepasste Papiermenschen und Heuchler. Es kommt auch eine phantastisch ausgearbeitete Figur aus Fleisch und Blut vor: Henryk, ein unsterblicher Antiheld, eine bunte und fehlerhafte Datei in der europäischen Matrix. Da Brikschinski Senior nicht mehr trinken kann, beschäftigt er sich mit der mündlichen Überlieferung aller denkbaren Verschwörungstheorien über die Politik, die Ökonomie, die Außerirdische, die Herkunft der Menschen oder die Weltregierung. Dabei ist er so einfallsreich und schräg, dass er sogar die Insider in Staunen versetzen könnte. Schade darum, dass er während seiner ausführlichen Tiraden durch seine Frau oft zum Schweigen gebracht wird. Denn das, was er zu sagen hat, wirkt störend auf die Versammelten in Hotel Lindley: Alle wollen doch feiern und sich amüsieren. Die Grübeleien des Vaters über die Grausamkeiten und Verrücktheiten der Erdlinge sind für sie völlig fehl am Platz.
Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn ich erfahren hätte, dass Artur Becker aus einem einzigen Grund seinen neusten Roman geschrieben hätte: Um Henryk Brikschinski ins Leben zu rufen, zu töten und dann auferstehen zu lassen. Denn so etwas tut doch jeder gern mit seinem eigenen Vater.
Artur Becker, Der unsterbliche Mr. Lindley, Ein Hotelroman, 320 Seiten, weissbooks.w, Frankfurt am Main 2018.
Ostra-Gehege, Zeitschrift für Literatur und Kunst, Heft 92 (II/2019)
© Dariusz Muszer