Petra Faryn: Echse mit Werwolf-Qualitäten

Der EchsenmannEIN LEICHENFUND, EIN ZEUGE, die Polizei und viele ungeklärte Fragen legen die Vermutung nahe, „Der Echsenmann“ sei ein Krimi, vor allem, weil der Polizist den Zeugen, der sich an nichts erinnern kann, für den Täter hält. Der menschengroße Gartenzwerg, eine speerbewaffnete Amazone, ein sehr junges Medium mit Namen Chadidja: Hier deutet alles auf Fantasy hin.
Allerdings ist der Protagonist der Fantasy-Story ein einsamer Mann, der seine vor Jahren verschwundene Frau schmerzlich vermisst, mit sich selbst nicht mehr zurechtkommt und Rat in einer Internet-Therapie sucht. Eine Psycho-Liebesgeschichte also.

Das erste, was an dem neuen Roman von Dariusz Muszer, dem 42-jährigen gebürtigen Polen, fasziniert: Er lässt sich nicht auf ein Genre festlegen, verwebt kunstvoll die verschiedenen Elemente. Muszer erzählt teilweise in gewollter Zumutung für den Leser, und in seinen skurrilen, absurden Szenen geht längst nicht alles mit rechten Dingen zu. Aber was heißt schon „recht“? Schließlich ist der Alltag hier im Niemandsland zwischen Lüge, Wahn, Fantasie und Realität angesiedelt. Die „Freizeithure“ Chantal, von der der Protagonist Nähe erkauft, gehört zu diesem Alltag ebenso wie die Bärin mit den grünen Haaren. Wie Espen Askeladden seine Realität erlebt und woraus sie besteht, das ist schon lesenswert und voller wunderbarer Einfälle. Psychologisch reflektierend könnte man allerdings sagen: Espen Askeladden hat jeden Halt verloren, seine Persönlichkeit beginnt sich aufzulösen bzw. beliebig zu werden. Nicht als multiple Persönlichkeit, denn das würde den Blick zu sehr auf den pathologischen Aspekt lenken, sondern: mimikryhaft, flexibel. Je nach Tagesform gibt er, der Taxifahrer, sich als Bulgare, Norddeutscher oder Osteuropäer aus, sein Name ist ein angenommener, und auch die Geschichten, die er erzählt, variieren erheblich. Ja, vielleicht flieht er durch die Lügen in wechselnde Welten. Aber es geht eben nicht um die psychologische Analyse, ebenso wenig, wie es um die pure Detektivgeschichte geht. Zwar weist der Roman einige Elemente derselben, z.B. das Motiv, auf: Beide ermordeten Frauen haben ihren Mann mit einer Frau betrogen. Und der Tatzeuge mit Amnesie und ominösen Zittern fesselt die Aufmerksamkeit von Beginn an. Die Welt des Espen Askeladden ist irreal, real und von Muszer so lakonisch erzählt, dass kaum Irritation aufkommt. Erklärbares wie die Geschichte mit dem Lösungsmittel, das zur völligen unwiderbringlichen Enthaarung des Protagonisten geführt hat, steht neben Absurdem wie dem Mann, der jung und alt gleichzeitig ist. Das Gewicht verschiebt sich immer mehr. Nicht mehr aus detektivischer Raffinesse entsteht die Spannung, sondern aus der Frage: Wer ist eigentlich Espen Askeladden, den es ab und zu animalisch in den Wald zieht, wo er sich verwandelt? Der schwankt, ob er die Wahrheit über Lokisa wissen will oder nicht? Er tarnt sich, um sich anzupassen und sich gleichzeitig zu entziehen: aber ist nicht auch das Chamäleon eine Echsenart?

Espen Askeladden ist der Echsenmann. Die Anspielungen in Form von langer gespaltener Zunge etwa wirken etwas dick aufgetragen, doch bevor Ungeduld aufkommt, hat die Geschichte einen mit gelungenem Spannungsbogen schon wieder in ihrem Bann: Es stellt sich heraus, dass auch eine Echse Werwolf-Qualitäten haben kann, und dass nicht immer klar ist, wer das Opfer ist: Dr. Jekyll oder Mr. Hyde. Schließlich kommt es zum Show-Down, der schwächsten Stelle des Romans; hier soll die Frage von Schuld und Sühne geklärt werden, die Espen die ganze Zeit über quält. Das thematisiert Muszer aber viel überzeugender schon vorher: Ist ein Täter ein Täter oder nicht vielleicht auch ein Opfer? Pumpgun-Knallereien und verblutende Täter-Opfer-Helden wirken da eher banal.

Aussagen wie die der kleinen muslimischen Chadidja, der Weihnachtsmann komme nur zu deutschen Kindern, lassen zusätzlich eine allgemeine Ebene in diesem Roman erahnen. Eine, auf der die Flucht in andere Identitäten die Antwort ist auf die Brutalität der Gefühlskälte. Zwar ist die Idee sehr gut, mit Hilfe von irrealen Szenen mitten im tristen Hannoveraner Alltag den Finger auf die Wunde zu legen, aber es scheint nun doch etwas sehr viel zu sein, was Muszer vermitteln will. So bleibt sein stärkstes Element die skurrile Fantasie, verbunden mit einer großen Erzählfreude – unbedingt unterhaltsam!

Listen, Nr. 63/2001
© Petra Faryn
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten