Als der Spätaussiedler Naletnik mit 30 Jahren von Polen nach Westdeutschland kommt, steht der Eiserne Vorhang noch, es sind noch zwei Welten. Er ist das Kind einer haltbar erstarrten Diktatur, die Kollision seiner Prägungen mit der westdeutschen Normalität der späten achtziger Jahre ist in diesem Buch exemplarisch beschrieben. Als Verräter wittert er überall Verrat, als Untertan hasst er auch die freundlichsten Beamten, die korrektesten Uniformierten, er will nicht wahrhaben, dass es keine verdammten Verhältnisse mehr gibt, die ihm erlauben, ein schlechter Mensch zu sein, Verhältnisse, denen er sein Versagen aufhalsen kann. Er hat das Pech, seine diktatorischen Prägungen schmerzhaft deutlich zu erkennen, und will nicht wahrhaben, dass er die Verantwortung für seine missratene innere Gestalt nun ganz allein auf seinen Schultern hat.
Dariusz Muszer erzählt die Heimsuchungen der Freiheit, er erzählt, wie viel komischen, verzweifelten Aufwand man betreiben kann, sie nicht auf sich nehmen zu müssen. Wie unerträglich Freiheit sein kann, wenn man als ausgewachsener Untertan hineingeworfen wird. Und wie Geschichte, Herkunft, Schicksal zur moralischen Entlastung eines neunmalklugen Bösewichts herhalten können. Ein Vorzug des Buches ist, dass von alldem nicht die Rede ist. Der Weg des Spätaussiedlers durch die westliche Welt ist aus einer Innensicht geschildert, die seine Geschichte glaubhaft und spannend macht. Freiheit heißt für ihn, von der Vergangenheit eingeholt zu werden, von Schuld und Selbsthass in dem Maße, wie er sich als schuldfähiges Monster begreift. Naletnik kann aus dem Teufelskreis des Bösen, das man ihm antat, nicht ausbrechen, und er hat das Pech, dieser Unfähigkeit auch noch ins Gesicht sehen zu müssen: ins eigene.
Die Zeit, Nr. 13 vom 23. März 2000
© Martin Ahrends
Dariusz Muszer: Die Freiheit riecht nach Vanille, Roman. A1 Verlag, München, 216 Seiten