Eine grausam entstellte Frauenleiche gibt der Polizei Rätsel auf. Befremdlich wirkt auch der einzige, offensichtlich unter Amnesie leidende Zeuge. War er es, der die Ordnungshüter an den Tatort rief, ist er am Ende gar der Täter oder steht er nur unter Schock? Noch weiß er jedenfalls nicht mal mehr Namen oder Anschrift, selbst seine Herkunft bleibt vorerst, dank des ständig wechselnden Akzentes, im Unklaren.
So macht sich der abgetakelte Polizei-Meister Eckard mit dem deutlich nervösen Unbekannten erst einmal auf die Suche nach dessen Identität, so nach und nach wird dieser dabei anscheinend greifbar: Taxi fährt er des nachts und teilt sich eine Wohnung mit zwei Damen, eine übt das in Wirklichkeit gar nicht so leichte Gewerbe aus und ist so was wie seine Klagemauer, ja und ein Name findet sich schließlich auch, wenn auch nur ein angenommener.
Dieser Espen Askeladden ist hauptberuflich Phantasieberater, was auch immer das sein mag, und die Leser dieses 200 Seiten zählenden sprachlichen Labyrinths haben vorerst kaum Gelegenheit es herauszufinden, denn die multiple Persönlichkeitsstruktur Askeladdens birgt noch ganz andere Überraschungen. Zum einen unterhält dieser vergessliche Taxifahrer höchst eigenwillig Kontakte zu einem Zwerg, eine Fee tritt in Erscheinung und eine dunkle, speerbewehrte Amazone, und anderseits überlagert diese Personale den tristen hannoverschen Alltag mit einer düster-schillernden Schattenwelt, in der Espens zweite Natur als Echsenmann ein blutiges Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Drama inszeniert.
Dariusz Muszers zweiter, in deutsch geschriebener Roman „Der Echsenmann“ bricht wie sein Erstling „Die Freiheit riecht nach Vanille“ nicht nur mit eigenen liebgewordenen Lesegewohnheiten, streckenweise gestaltet sich der Weg in die seelische Abgründe seines Protagonisten für den Leser als gewollte Zumutung.
Der 42-jährige in Hannover lebende Autor polnischer Herkunft nutzt das Transportmittel seines Storybords geschickt zur Kritik an den Umständen einer hohlen deutschen Konsumwelt, in der sich die Annäherung an den Fremden allenfalls als prickelnder One-Night-Stand äußert und der Weihnachtsmann gar nicht erst zu muslimischen Kindern oder Menschen ohne Arbeitserlaubnis kommt.
In dieser kalten, kranken Welt entzündet sich die Phantasie nur noch an der Perversion, reduziert sich der Mensch zur Projektionsfläche seiner Funktion, seiner Herkunft. Askeladden ist diese alles schluckende Fläche, je nach Begegnung mal Italiener, Bulgare, Norweger, als Mensch ohne präzise Herkunft genauso austauschbar, wie als Liebhaber oder Taxifahrer, dem sich zumeist weibliche Fahrgäste mit ihren pseudoliberalen Zumutungen nähern. Doch in ihm schlummert eine stark fühlende nächtliche Seele mit dem Vermögen zu Liebe, Verletztheit oder Gerechtigkeit, wund geworden auf der Suche nach der Anima, der Traumfrau in einer besseren Welt, die das Ungeheuer, den Echsenmann, mit all seiner Panzerung und ungreifbaren Glätte, befriedigt. So ist dieser Text eine Warnung vor der institutionalisierten Missachtung der menschlichen Natur: denn eine Welt, in der die Liebe und die Phantasie vom Aussterben bedroht ist, schafft sich ihre Ungeheuer selbst.
Radio Flora Hannover, Kulturredaktion, 27.8.2001
© Johannes Schulz
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten