„Der Echsenmann“ – meisterhaft spielt Dariusz Muszer mit dem Leser, indem er ihn aus der lieblosen, egoistischen Industriewelt in eine zärtliche und romantische wirft.
Steigen Sie bitte ein, in das Hannoverisches Taxi! Espen Askeladden, genannt nach gleichnamiger Figur eines norwegischen Märchens, ein ungewöhnlicher Fahrer, Spaziergänger, der ganz zufällig Frauenleiche findet, Mr. Hyde, oder Phantasieberater, der auf der Suche nach Liebe nur Misserfolge erntet und sich gelegentlich in eine Echse verwandelt, bringt sie, wo Sie hin müssen! Es sei denn… dass etwas dazwischen kommt, ein betrunkener Geheimagent, der Sie mit einer Waffe bedroht, oder… ein Mord.
Eines Nachts geht Espen spazieren und findet eine Frauenleiche. Klassische Szene eines Kriminalromans oder eines Krimifilms, die Sachlage wird aber gleich komplizierter. Das Problem ist, dass Espen, nicht mehr weiß, ob er derjenige ist, der die Polizei gerufen hatte oder war das der Mörder. Espen leidet an Amnesie, was leider von vielen nicht ernst genommen wird. Für den Polizisten, Meister Eckard, wird der Spaziergänger mit seinem problematischen Auftreten verdächtigt.
Seitdem kreuzen sich öfters die Wege des Polizisten und des Taxifahrers. Nicht nur der Fall verbindet sie und führt Meister Eckard zu Espen. Ähnliches Schicksal, beide wurden von ihren Frauen verlassen, und beide verbindet jetzt eine Frau, Chantal, Epsens Mitbewohnerin ist Eckards Geliebte, oder genauer gesagt, er ist ihr Kunde im Freudehaus, wo sie als Freizeithure arbeitet.
Der Mord in diesem Buch ist nur ein Auslöser. Auslöser dafür, um sich an die Gestalten des 21. Jahrhunderts und ihr Leben in Hannover, es könnte jedoch auch eine andere Stadt sein können, zu nähern. Das Leben der Protagonisten Muszers Romans erscheint so schräg, wie in einem verzerrten Spiegel, was die Betrachtung Espens bestätigt. wenn er in einen Spiegel schaut und eine Echse sieht. Nichts mehr scheint normal zu sein. Das heimtückische daran ist, dass eigentlich alles ganz normal ist. Die Sehnsucht der Menschen nach Liebe, Geborgenheit und Heimat, die in Depressionen und totaler Verzweiflung endet, sogar wie bei Chantal, mit Selbstmordversuchen. Dies pointiert Muszer:
„Niemanden zu lieben gehört heutzutage zum Lebensstil.“
Es ist normal, wie Menschen in ihrer zivilisatorischen Entwicklung immer menschlicher werden, gleichzeitig aber entfernen sich von ihrem Menschendasein. Espen verbindet in sich die Sehnsüchte des modernen Menschen, seine Ursprünge, Höhlenmalerei und märchenhafte Phantasiewelten, in die er flüchtet, und den Drang eines Menschen nach Freiheit, fern von jeglichen politischen Grenzen. Deshalb gibt er sich mal als für einen Osteuropäer, mal für einen Bulgaren oder auch Rumänen aus, womit er die Absurdität der Unternehmung, in der mutlikuturellen Welt jemanden zu einer Gruppe, Klasse zu zuordnen, karikiert.
„Heute bin ich ein Mensch aus Osteuropa und wandere auf osteuropäische Art und Weise durch die Stadt.“
Oder ein paar Seiten weiter, lesen wir:
„Bitte akzeptieren Sie endlich, dass ich heute Nacht ein Osteuropäer bin. Wer weiß, vielleicht bleibe ich noch ein paar Nächte lang dabei oder ein paar Monate oder sogar Jahre. Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Niemand von uns weiß das. In unserer Schnellimbisswelt gibt es Menschen, die ihre Staatsangehörigkeit öfter wechseln müssen als ihre Beischlafpartner. Ich gehöre zu diesen Menschen. Im Leben geht es nicht um Nationalität und Zugehörigkeit, sondern ums blanke Überleben.“
Meisterhaft spielt Muszer mit dem Leser, indem er ihn aus der lieblosen, egoistischen Industriewelt in eine zärtliche und romantische wirft. Einerseits sucht sein Protagonist via Internet Kontakte mit Frauen, die als one-night-stand enden, und andererseits, gleich danach, unterhält er sich mit einem Zwerg, der Sterne zählt und menschlicher ist, ale alle Menschen zusammen gezählt:
„Wir alle hoffen doch, dass irgendwann irgendjemand vorbeikommt. Warten ist unser Zustand, der Zustand, in dem wir uns unaufhörlich befinden. Jeden Tag, in jeder Stunde, in jeder Sekunde warten wir auf irgendetwas oder auf irgendjemanden. Und das ist falsch. Wir sollten aufhören zu warten und anfangen zu leben. Aber wir können nicht, also warten wir weiter.“
Und es passiert noch ein Mord. Die Polizei kommt nicht weiter. Die Vermischung der Phantasiewelten und der Realenwelt macht den Leser unsicher und stutzig, was man hier ernst nehmen soll und was nicht. Es gibt kein Happy-End, aber eine Rettung, auch wenn das der Tod ist.
Zum Zweiten Mal beweist Dariusz Muszer sein Schriftstellerisches Talent. Der erste Roman, erschienen 1999 auch beim A1 Verlag, „Die Freiheit riecht nach Vanille“ lieferte guten Einstieg in das schriftstellerische Können Dariusz Muszers. „Der Echsenmann“ eröffnet neue Themenkreise und macht Muszer zu einem Autor, der aufmerksam und sensibel an dem Leben und der Gegenwart teilnimmt. Seine Bücher sind eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart und dem heutigen Menschen. Er spricht die Sprache dieser Welt und dieser Menschen, sowohl im übertragenem Sinne als auch wörtlich, in Dialogen des Romans.
Was man nicht vergessen darf, ist der Humor, die Ironie, die Bildhaftigkeit Muszers Sprache und seine Metaphern. Wenn also jemand sich stark genug fühlt für ein literarisches Abenteuer und literarische Vielfalt, soll in das Taxi einsteigen und eine Fahrt wagen, und einfach nach dem Buch greifen.
© Katarzyna Rogacka-Michels
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten