»Was sind Sie für ein Landsmann?«, fragt die ältere Dame in Kastanienbraun und lächelt ein wenig verlegen.
Sie ist sein erster Fahrgast heute, will ihren Mann besuchen, und der liegt schon lange auf dem Friedhof.
»Raten Sie mal, gnädige Frau«, erwidert Askeladden.
»Bestimmt sind Sie Türke«, sagt sie und lächelt zufrieden, wie ein kleines Mädchen, das ein schwieriges Rätsel auf Anhieb gelöst hat.
»Für einen Türken bin ich doch ein wenig zu groß, gnädige Frau. Und ansonsten habe ich, wie Sie meinem Äußeren entnehmen können, weder einen verführerischen Schnurrbart noch wilde Augen, die nach Blut und Rache für die 1683 mit Schimpf und Schande verlorene Belagerung Wiens lechzen.«
Darüber ist die ältere Dame untröstlich. Sie hat sich geirrt, sie wollte doch nur nett sein. Eine Weile sitzt sie stumm und traurig, ihre kastanienbraune Handtasche in den Schoß gepresst, und starrt vor sich hin. Dann belebt sich ihr Gesicht, sie neigt sich zu Askeladden und sagt vertraulich: »Dann müssen Sie Jugoslawe sein. Jugoslawen sind größer als Türken, nicht wahr?«
»Sehe ich wirklich so grausam aus?«
»Meinen Sie, Jugoslawen sind grausam?«
»Auf keinen Fall, so etwas würde ich unter keinen Umständen behaupten. Es ist zur Zeit verboten, über typische Merkmale einzelner Völker zu sprechen. Allerdings muss ich zugeben, dass es stimmt, was Sie da sagen. Ich habe nämlich einen jugoslawischen Bekannten, und der ist größer als mein türkischer Nachbar. Ja, er ist sogar größer als mein Arbeitskollege aus Kroatien und er ist größer als ich. Daraus können wir schließen, dass Jugoslawen ziemlich groß sind.«
»Dann weiß ich nicht mehr, was Sie sind. Sagen Sie es mir.«
»Und wozu wollen Sie das eigentlich wissen? Warum ist das für Sie von so großer Bedeutung, was ich für ein Landsmann bin?«
»Das ist gar nicht so kompliziert: Ich interessiere mich für unsere ausländischen Mitbürger.«
»Und welche Völker, beziehungsweise welche Vertreter einzelner Nationen mögen Sie nicht?«
»Diese Frage ist ein wenig unhöflich, junger Mann. Sie scheinen mir ein richtiger Spaßvogel zu sein. Zur Ihrer Information, ich mag alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Hautfarbe und ihrer Religion.«
»Eine ausgezeichnete Antwort, gnädige Frau. Sie bekommen in unserem kleinen Quiz hundert Punkte, also alles, was ich Ihnen heute geben kann. Noch eine Zusatzfrage, und diesmal, gebe ich zu, wird es eine Fangfrage sein: Haben Sie möglicherweise schlechte Erfahrungen mit Bulgaren?«
»Durchaus nicht. Wahrheitsgemäß habe ich überhaupt keine. Letztes Jahr besuchte meine Bekannte Bulgarien, sie hat am Schwarzen Meer Urlaub gemacht. Nach ihren Angaben muss Bulgarien ein beachtlich schönes Land sein. Nur die Menschen leben dort ganz anders als bei uns. Wissen Sie, man kann sich gar nicht vorstellen, wie arm sie da sind! Hundert Mal ärmer als wir nach dem Krieg. Aber jetzt geht es uns gut. Ja, es geht uns bestens, und die Bulgaren sind an der Reihe, arm zu sein.«
»Weil Sie so nett sind, verrate ich Ihnen, was ich bin. Ich bin nämlich Bulgare. Jaja, schauen Sie mich bitte nicht so verwundert an, ich bin wirklich einer, ein waschechter Bulgare aus Fleisch und Blut. Bitte, Sie können mich ruhig anfassen, um sich selbst zu überzeugen, wie sich ein Bulgare anfühlt.«
»Was erlauben Sie sich, junger Mann. So etwas tue ich auf keinen Fall! Ich bin doch kein Veterinär!«
»Dann eben nicht. Sie müssen mir also aufs Wort glauben, dass sich ein Bulgare beim Anfassen genauso gut anfühlt wie ein Albaner oder ein Franzose. Mit einer Ausnahme: Bulgaren fühlen sich an manchen Stellen weicher an. Aber an welchen, das verrate ich Ihnen, gnädige Frau, heute nicht. Wir kennen uns noch nicht so gut. Jetzt möchte ich Ihnen meine bulgarische Nationalität noch anders beweisen. Hören Sie mir zu!«
Die ältere Dame in Kastanienbraun sieht Askeladden verdutzt an.
»Ein kleiner Scherz zur Aufmunterung, gnädige Frau. Drei Sekunden habe ich kein Wort gesagt, da konnten Sie selbstverständlich nichts hören. Aber jetzt, wenn ich spreche … Ja, ich sehe, Sie wissen schon, worauf ich hinauswill. Wahrhaftig, Sie haben recht. Sie haben es erkannt, man kann hören, dass ich Bulgare bin. Man kann es deutlich an meinem trillernden Zungenschlag erkennen. Nur die Bulgaren sprechen so deutsch. Die anderen unserer ausländischen Mitbürgern machen das völlig anders. Es freut mich, dass Sie das sofort bemerkt haben. Dafür muss man ein gutes Ohr haben, und Sie haben es!«
»Ja, Sie haben Recht, wirklich. Jetzt, wo Sie es sagen, höre ich das deutlich. Sie trillern wie ein richtiger Vogel. Es klingt schön, ich mag Vögel sehr. Früher hatte ich einen bei mir zu Hause, aber jetzt nicht mehr.«
»Sehen Sie! So sind wir, die Bulgaren, wir trillern wie Bergadler, die hoch unter den unerreichbaren Wolken wohnen. Ich verrate Ihnen etwas, gnädige Frau: Bei uns gibt es sehr viele Berge und noch viel mehr Bergadler. Ein Bergadler, der seine mächtigen Flügel ausbreitet, gehört zu unseren heiligen Nationalsymbolen. Könnte ich womöglich erfahren, was für einen Vogel Sie einmal besaßen?«
»Es war ein Kanarienvogel, zitronengelb, er hieß Serinus und sang sehr schön, und wenn er sang, dann strahlte die ganze Welt. Den habe ich vor fünf Jahren verloren, er ist plötzlich gestorben, ich habe es nicht mal geschafft, ihn zu einem Arzt zu bringen. Vor seinem Tod trillerte er nicht, er saß drei Stunden lang schweigend und apathisch in seinem Käfig, und dann ist er auf einmal umgekippt. Ich vermute, es war Herzversagen.« Die Dame in Kastanienbraun stößt einen Seufzer aus, schiebt die Unterlippe vor und nickt ein paar Mal mit dem Kopf. Sie versinkt für eine Weile in ihrer Welt.
»Ich hätte da eine Frage«, sagt sie sich aufrappelnd, »die Sie mir bestimmt beantworten können.«
»Schießen Sie bitte los, gnädige Frau.«
»Vor einigen Jahren habe ich in einer Zeitschrift bei meinem Arzt gelesen, dass Bulgaren besonders langlebig seien. Angeblich kommt es daher, dass sie viel Knoblauch essen. Schön und gut. Aber stinkt man da nicht, wenn man so viel Knoblauch isst? Ich habe es ausprobiert, habe eine Kur gemacht, eine Woche lang habe ich viel Knoblauch gegessen, eine ganze Knolle pro Tag. Aber dann habe ich so fürchterlich gestunken, dass ich mich selbst nicht mehr riechen konnte. Wie machen die das, die Bulgaren?«
»Sie essen Knoblauch und stinken«, erwidert Askeladden und stoppt den Wagen vor dem Zebrastreifen. »Jeder hat die Wahl: entweder mit Gestank lange zu leben oder schnell zu sterben und gut zu riechen«, fügt er hinzu, während er wartet, bis die Fußgänger die Straße überquert haben: eine Frau mit Kopftuch und fünf Kinder im Schlepptau sowie ein junges Pärchen, das sich an den Händen hält. Auf Taxihöhe verlangsamt es den Schritt und das Mädchen küsst den Jungen auf die Wange, wobei sie Askeladden ansieht. Er zieht die Stirn in Falten, und das Mädchen streckt zufrieden lächelnd die Zunge heraus und fährt damit langsam über die Wange ihres Partners. Askeladdens Hand landet auf der Hupe. Laut lachend flattert das Pärchen davon.
»Aber Sie …«, sagt die Dame in Kastanienbraun, »Sie stinken doch nicht, wenn ich das so formulieren darf.«
»Sie dürfen. Ich verrate Ihnen etwas: Ich habe nicht die Absicht, lange zu leben, deswegen esse ich keinen Knoblauch. Ich bin einer der Bulgaren, die sich entschlossen haben, kurz und gut zu leben, jedenfalls kürzer und besser als die anderen Bulgaren. Es gibt auch solche, glauben Sie mir. Ich esse nur gelegentlich Knoblauch, und wenn ich das tue, dann stinke ich weniger. Und wissen Sie, warum? Ich spüre es einfach nicht.«
»Haben Bulgaren vielleicht andere Nasen?«
»Das stimmt, Sie haben wieder recht. Die bulgarischen Nasen sind auf südslawische Art und Weise gebaut.«
»Und was bedeutet das? Sind das keine Menschen wie wir? Wie ist denn Ihre Nase gebaut?«
Askeladden betätigt den Blinker und biegt in die Zufahrtsstraße zum Friedhof ab.
»Von außen betrachtet«, sagt er, »gibt es keinen Unterschied zwischen einer bulgarischen und einer deutschen Nase, das haben Sie bestimmt schon erkannt. Seit einer Minute sehen Sie meine Nase sehr aufmerksam an – würde sie anders aussehen, wäre Ihnen das schon längst aufgefallen. Die Nasen von Bulgaren sind innen anders gestaltet. Es bildet sich mehr Schleimhaut, was verhindert, dass Knoblauchgeruch in die Nase dringen kann. Außerdem wohnt in fast jeder bulgarischen Nase ein Polyp, der die Gerüche zusätzlich filtert.«
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen!«
»Das kann ich jetzt leider nicht, gnädige Frau. Ich muss doch lenken.«
Sie sind angekommen. Die Dame in Kastanienbraun bezahlt ihre Fahrt, gibt Askeladden vierzig Pfennig Trinkgeld und fragt, ob er sie in einer Stunden abholen könne, für die Fahrt zurück. Askeladden ist einverstanden. Sie verabreden sich um achtzehn Uhr direkt vor dem Friedhofstor.
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten