Bruno Lässer: Die Heilige Homepage

Gottes HomepageIrgendwann in grauer Zukunft: Wir schreiben das Zeitalter des Regenbogens und die Erde ist von Geklonten und Hologrammen, aber auch von mehrfach runderneuerten Nachfahren des Menschengeschlechts bevölkert. Nach einigen unheilvollen Kriegen hat die außerirdische Sippe der Himmelblauen das Kommando übernommen und herrscht über einen mit Mitteln der Hochtechnologie überwachten Frieden.

Gospodin Gepin und seine Frau Freyja, beide dank medizinischer Runderneuerung schon weit über 100jährig, gehören zu den wenigen Erdbewohnern, die sich noch an ihre leiblichen Vorväter in Menschengestalt erinnern können. Mitten in dieser eigenartigen Atmosphäre angespannten Friedens – die Arbeit als reiner Broterwerb wurde längst abgeschafft, stattdessen sorgt der allgegenwärtige Staat für eine materielle Rundumversorgung seiner Bürger – beschließt Gepin, seine Memoiren zu schreiben. Die staatlichen Behörden reagieren auf dieses Ansinnen mit einer Menge Vorsichtsmaßnahmen: Gepin und Freyja wird eine eigene „Erzählerwohnung“ in einem abgelegenen Landstrich in Südnorwegen zugewiesen. Die zentrale Kulturbehörde verlangt außerdem ausdrücklich von Gepin, seine Erinnerung auf Deutsch – einer zu dieser Zeit längst ausgestorbenen Sprache – aufzuschreiben und seinem beamteten Aufpasser regelmäßigen Bericht über die Schreibfortschritte zu erstatten.

Dennoch führt Gepins Erinnerungsarbeit zu ganz und gar nicht gewünschten Resultaten und steht in krassem Widerspruch zum offiziellen Geschichtsbild, verbreitet auf Gottes Homepage: Er erinnert sich vor allem an zahlreiche grausame Kriege und seine Tätigkeit als Untergrundkämpfer. Immer wieder taucht auch sein Vater Ruslan, der Fliegende Kalmücke und einer der ersten Kosmonauten in der früheren Sowjetunion auf. Ruslan rettete ihm nicht nur mehrmals das Leben, sondern machte ihn auch frühzeitig, als deren Existenz noch höchster Geheimhaltung unterlag, auf Gottes Homepage aufmerksam. So erfuhr Gepin nicht nur bis dahin der Öffentlichkeit vorenthaltene historische Wahrheiten, sondern konnte auch gegenwärtige und zukünftige politische und militärische Umwälzungen schwarz auf weiß auf dem Bildschirm nachlesen. Doch auch die Heilige Homepage ist mittlerweile vor Manipulationen nicht mehr gefeit und Gepin muss mit Schrecken feststellen, dass viele ihrer Inhalte sukzessive im Nichts verschwinden, ähnlich wie die idyllische Landschaft rund um sein norwegisches Schreiberdomizil, deren Pixel im Verlauf seines Aufenthalts ebenfalls zunehmend verblassen…

Mit „Gottes Homepage“ knüpft der in Polen geborene Dariusz Muszer nahtlos an das große Science-Fiction-Oeuvre seines Landsmanns Stanislaw Lem an. Sein Roman aus ferner Zukunft ist verstörend, tragikomisch und klug zugleich, eine gelungene Satire auf den Traum vom ewigen Leben und die Tristesse der virtuellen Welten im Internet.

Vorarlberger Nachrichten vom 23.6.2007
© Bruno Lässer

Dariusz Muszer: Gottes Homepage, Roman. A1 Verlag, München, 219 Seiten