Meine Damen und Herren, ich begrüße sie herzlich zu unserer zweiten Lesung in der Reihe „Zwischen zwei Kulturen. Literarische Weltmodelle junger polnischer Migranten in Deutschland“. Ich begrüße besonders unseren Gast, Dariusz Muszer, der für Sie heute lesen wird.
Bevor ich auf den Autor und sein Buch eingehe, möchte ich ein paar Worte zu der Lesereihe sagen. Sie entstand in der Kooperation verschiedener Institutionen und Organisationen. Zu nennen sind die Forschungsstelle Osteuropa, die Deutsch-Polnische Gesellschaft, das Literaturkontor Villa Ichon, die Landeszentrale für Politische Bildung, die Ausländerbeauftragte des Landes Bremen, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Bremer Osteuropa Hilfe. Der Titel dieser Reihe „Zwischen zwei Kulturen“, bezieht sich auf Polen und Deutschland, auf die Schriftsteller, die Ende der 80er Jahre aus Polen nach Deutschland emigrierten, heute in Deutschland leben und schreiben. Sie repräsentieren damit eine neue kulturelle Vielfalt, da sie beide Kulturen in sich vereinigen.
Unser heutiger Gast, Dariusz Muszer, ist 1959 in Westpolen geboren und lebt seit 1988 in Hannover. In Polen studierte er Jura an der Universität in Posen. Seine berufliche Laubahn klingt sehr abenteuerlich, als ob sie einem der Protagonisten seiner Romane zugehörte: Er arbeitete als Schlosser, Dachdecker, Staatsanwalt, Tischler, Schauspieler, Regisseur, Taxifahrer, Musikant, Instruktor, Kellner, Journalist, DTP-Fachkraft, Beleuchtungstechniker, Totengräber. Außerdem gehört Muszer zu den Übersetzern aus dem Deutschen ins Polnische. Seine letzte Übersetzung war Die weiße Massai.
Schon in Polen war Muszer schriftstellerisch tätig. Neben Publikationen seiner Gedichte in zahlreichen literarischen Zeitschriften, neben Hörspielen und Radiovertonungen erschien 1987 ein Gedichtband, 1989 ein zweiter. In Deutschland wurden folgende Werke von Dariusz Muszer publiziert:
Die Geliebten aus R. und andere Gedichte Hannover, 1990. Die hungrigen Walfische. Theaterstück Hannover, 1991. Ludziojad (Der Menschenfresser) Hannover, 1993. Panna Franciszka, pomylony akordeon i inne wiersze z lat 1983-1987. (Fräulein Franziska, das verwechselte Akkordeon und andere Gedichte aus den Jahren 1983-1987.) Hannover, 1995. Księga zielonej kamizelki. Liryczne zapiski z wędrówek po Norwegii w latach 1992-1994.(Das Buch der grünen Weste. Lyrische Aufzeichnungen aus den Wanderungen durch Norwegen in den Jahren 1992-1994). Hannover; Sopot, 1996.
Muszers großer Durchbruch kam erst, als er ins Deutsche wechselte. Sein erster Roman, Die Freiheit riecht nach Vanille, 1999 bei A1 Verlag in München erschienen, machte Muszers Namen bei den Kritikern und dem Publikum bekannt. Für diesen Roman wurde dem Autor eine Auszeichnung des Verbandes Deutscher Schriftsteller für Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen verliehen. Dem Debütroman folgt zwei Jahre später, 2001 auch bei A1 in München erschienen, Der Echsenmann.
In der Presse wird Der Echsenmann begleitet von Schlagzeilen wie: Mitfühlende Ratlosigkeit. Mörderisches Hannover: Dariusz Muszers „Der Echsenmann“, „Der Echsenmann“ – in einer prächtigen Ansammlung düsterer Ecken. Der neue Roman von Dariusz Muszer – wieder im geheimnisvoll-trägen Hannover angesiedelt – findet den Leser vielfach ratlos oder Liebe macht grausam. Dariusz Muszers gelungener Großstadt-Roman „Der Echsenmann“.
Zu dem Roman
Eines Nachts geht der Protagonist des Romans, nach einer Figur eines Norwegischen Märchens genannt, Espen Askeladden, spazieren und macht einen Fund: Er findet eine Frauenleiche! Eine klassische Szene, die wir aus Kriminalromanen und Kriminalfilmen kennen, die aber einen ungewöhnlichen Lauf annimmt. Das Problem liegt nämlich darin, dass Espen nicht mehr weiß, ob er derjenige ist, der den Mord gesehen hat und die Polizei benachrichtigt hat, oder ob er gar der Mörder ist. Er leidet an Amnesie. Für den Polizisten, Meister Eckard, derdiesen Fall leitet und in dem wir eine Anspielung auf den großen deutschen Mystiker Meister Eckhart finden, wird der Spaziergänger durch sein problematisches Auftreten verdächtigt.
Seitdem kreuzen sich mehrfach die Wege des Polizisten und des Taxifahrers, Espen. Nicht nur der Fall bringt sie zusammen, sondern auch ein ähnliches Schicksal. Beide wurden von ihren Frauen verlassen. Espen vermisst seine wahre Liebe Lokisa, eine Malerin aus Litauen; Meister Eckard wurde von seiner Ehefrau verlassen. Beide verbindet jetzt eine neue Frau, Chantal, Epsens Mitbewohnerin in der WG und zugleich Eckards Geliebte – genauer gesagt, Meister Eckard ist ihr Kunde im Bordell, wo sie als Freizeithure arbeitet.
Wie wir schnell feststellen, ist die Detektivgeschichte nur ein Anlass. Anlass für einen Annäherungsversuch an Gestalten des 21. Jahrhunderts und an ihr Leben in Hannover. Das Leben der Protagonisten im Muszers Roman erscheint so schräg wie ein verzerrtes Spiegelbild. Auf der realen Ebene des Buches wird das durch Espen bestätigt, wenn er in einen Spiegel schaut und das Abbild einer Echse sieht. Nichts scheint mehr normal zu sein. Das Heimtückische daran ist, dass eigentlich alles ganz normal ist. Die Sehnsucht der Menschen nach Liebe, Geborgenheit und Heimat, die in Depression und totaler Verzweiflung endet, sogar wie bei Chantal in Selbstmordversuchen.
Espen vereinigt in sich die Sehnsüchte des modernen Menschen nach Höhlenmalerei und märchenhaften Phantasiewelten, in die er flüchtet, sowie den Drang eines Menschen nach Freiheit, jenseits aller politischen Grenzen. Deshalb gibt er sich mal für einen Polen, mal für einen Bulgaren oder auch für einen Rumänen aus, womit er die Absurdität der Unternehmung karikiert, in der multikulturellen Welt jemanden eindeutig einer Gruppe zuzuordnen.
Meisterhaft spielt Muszer mit uns, den Lesern, indem er uns aus der lieblosen, egoistischen Industriewelt in eine zärtliche und romantische Gegenwelt wirft. Einerseits sucht sein Protagonist via Internet Kontakte mit Frauen, die als one-night-stand enden, und andererseits unterhält er sich, gleich danach, mit einem Zwerg, Jadollah, der Sterne zählt und menschlicher ist als alle Menschen zusammen: Es passiert ein zweiter Mord. Die Polizei kommt nicht weiter. Es bleiben nur Vermutungen.
Die Vermischung von Phantasiewelten und von realer Welt macht den Leser unsicher und stutzig, was hier ernst zu nehmen ist und was nicht. Er muss mitdenken und das solange, bis die mehrmals angedeutete Umwandlung, die sehr stark an Kafkas „Verwandlung“ erinnert, vollzogen ist, das heißt – bis zum Schluss. Und auch dort finden wir kein klassisches Happyend, einen gelösten Fall.
Von der metaphernreichen und humorvollen Sprache Muszers können Sie sich gleich selbst überzeugen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß und gebe das Wort an den Autor weiter.
Moderation zur Lesung von Dariusz Muszer am 22. Januar 2003 in Bremen
© Katarzyna Rogacka-Michels
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten