Michael Zeller: Liebe macht grausam

Dariusz Muszers gelungener Großstadt-Roman „Der Echsenmann“

Der Echsenmann„Wenn jemand redet, entsteht Chaos, und aus dem Chaos entwickeln sich die schönsten Dinge. Zum Beispiel die Wahrheit …“ Ziemlich am Anfang seines neuen Romans „Der Echsenmann“ klotzt Dariusz Muszer diese Antithese hin von Chaos und Wahrheit. Soll er sie als Einladung verstehen, der werte Leser, oder als eine letzte Warnung: Vorsicht! Hier geht’s doppelbödig zu (mindestens)?

Wie in seinem ersten Roman „Die Freiheit riecht nach Vanille“ (1999) versteht Dariusz Muszer es erneut, eine mehrschichtige Handlung aufzubauen, die zwischen der Welt unserer alltäglichen Erfahrung und unseren Träumen und Albträumen gekonnt die Waage hält. Konkreter gesagt: „Der Echsenmann“ ist ein zeitgenössischer Großstadtroman und ein krauses naturmythologisches Märchen zugleich. Die Übergänge stellen den Leser auf eine Probe, die sich aber gut bestehen lässt.

Denn auf den Erzähler Muszer ist Verlass. In seinem Roman-Kosmos heben sich die krassen Widersprüche am Ende auf – was sich vom Leben bekanntermaßen nicht immer sagen lässt, zu unserem Leidwesen.

Leben in der Fremde

„Der Echsenmann“ spielt in unseren Tagen, in Hannover, wo der Autor selbst seit 1988 lebt. 1959 in Westpolen geboren, hat Muszer hier eine Bleibe gefunden, und hier hat er sich für die deutsche Sprache als sein Literaturidiom entschieden. Der gebürtige Pole ist ein deutschsprachiger Schriftsteller geworden, doch die Fremdheit im Leben hat er damit nicht abgelegt, gottlob. Sie ist und bleibt der Antrieb seines Schreibens: Fremdheit in ihrer existenziellen Form, weit über nationales Kästchen-Denken hinaus.

Der Held des Romans ist vierzig Jahre alt, Taxifahrer und nennt sich Espen Askeladden. Kann man fremder heißen? In seinem Beruf funktioniert der Mann wie es sich gehört. Zwar wird er von den Kunden, die er chauffiert, immer wieder auf seinen osteuropäischen Akzent angesprochen, aber er entledigt sich dieser Neugier souverän und mit Witz. „Dass ich kein Deutscher bin, das hört man, das sieht man und das riecht man deutlich.“

Unterhalb solchen alltagsgerechten Verhaltens allerdings wuchert die Fremdheit umso wilder, in ihrer abgründigen und rettungslosen Version. Askeladdens ganzes Dasein dreht sich um eine Frau, die ihm vor fünf Jahren abhanden kam. Mit Lokisa, Malerin aus Litauen, verbindet ihn immer noch die große Liebe. Diese Frau ist ihm die einzige „Heimat“, die ihm jemals möglich war.

Gespaltene Persönlichkeit

Seit Lokisa verschwunden ist, hat Askeladdens Person sich in zwei Teile gespalten: in den Hannoveraner Taxifahrer und in ein vorzeitliches Echsentier. Manchmal passiert ihm das hinter dem Steuer seiner Taxe, und dann ereignen sich schreckliche Dinge.

Aus diesem Verdoppelungsmotiv bezieht die Lektüre einen Teil ihrer Spannung. Gleichzeitig lässt sich der Roman auch als handfeste Kriminalgeschichte lesen. In der Stadt Hannover, die durch den Frauenmörder Fritz Haarmann in den zwanziger Jahren das Grauen der gesamten Nation kitzelte, werden wieder Frauen umgebracht, ausgerechnet die mit grünen Augen, Lokisas Augen.

Eine Antwort auf die Krimileser-Frage „Wer ist der Mörder?“ wird hier natürlich nicht verraten. Verraten darf ich, dass „Der Echsenmann“ ein Stück beachtlicher Literatur geworden ist. Dariusz Muszer erzählt uns eine ganz und gar traurige Liebesgeschichte. Er beschwört eine Liebe, die alle gesellschaftlichen Regeln sprengt und zerstört. „Heutzutage ist es nichts Besonderes, wenn eine Frau ihren Mann verlässt. Das ist sozusagen normal, gewöhnlich und geschmacklos wie Pommes frites mit Mayo“. Askeladden ist nicht fähig, sich mit solchen zynischen Bitterkeiten abzufinden. Er rebelliert dagegen mit der Vitalität des Fremden, der in der Liebe seine letzte „Heimat“ bedroht sieht. Er wagt den Hexentanz jenseits aller Moral.

Mit seinem Roman „Der Echsenmann“ ist Dariusz Muszer ein gnadenlos schlimmes Märchen gelungen, ein Märchen über die Liebe in unserer Zeit. Man kann nicht sagen, dass das alltäglich wäre in der deutschen Literatur dieser Jahre.

Nürnberger Nachrichten, 17. Januar 2002
© Michael Zeller
Dariusz Muszer: Der Echsenmann, Roman. A 1 Verlag, München, 208 Seiten