Kersten Flenter: Im Jahr des 88. Violetts

Dariusz Muszers Roman „Gottes Homepage“

 

Gottes HomepageGospodin Gepin beschließt im Alter von 128 Jahren, seine Memoiren zu schreiben. Und tatsächlich wird er in eine Erzählerwohnung in Südnorwegen versetzt, wo er im Auftrag der zentralen Kulturbehörde seine Erinnerungen in der ausgestorbenen Sprache Deutsch verfassen soll. Doch die Aufzeichnungen über die vergessenen Kriege um die Luft, die grausamen Erfahrungen als Untergrundkämpfer, entsprechen nicht der offiziellen Geschichtsschreibung. Informationen verschwinden von Gottes Homepage, deren Inhalte, so registriert Gepin, nur eine Variation verschiedener Zufälle darstellen.

Wir befinden uns im Jahr des 88. Violetts, im Zeitalter des Regenbogens, und mitten im neuen Roman des in Hannover ansässigen Autors Dariusz Muszer.
Wie bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Die Freiheit riecht nach Vanille“ und „Der Echsenmann“ schöpft Muszer mit verblüffendem Einfallsreichtum aus verschiedenen Genres. „Gottes Homepage“ ist Liebesroman, Science Fiction und Abenteuererzählung zugleich, in der Zeiten und Räume mühelos überwunden werden. Hannover-Linden findet im Roman ebenso seinen Platz wie die Lüneburger Heide, polnische Wälder und das gesamte „Multiversum“. Kleingartenkolonien erscheinen als geheime Terrorismuszentralen. Die Zeit wird manipuliert, die Erde ist von nur wenigen Echten und massenhaft Hologrammklonen bevölkert. Was ist wirklich, was ist Traum, was ist Simulation? Es gibt keinen Tod mehr, Zahlen werden mit Farben gemischt, Menschen werden runderneuert, es plastische Chirurgie gehört zum Alltag, und es ist nicht erlaubt, in Mietshäusern Literatur zu betreiben.

„Der Mensch ist wirklich schon immer ein albernes, zweibeiniges, ungefiedertes Geschöpf gewesen, das freiwillig volle Tüten und Kisten bis nach oben schleppt“, konstatiert Gepin, dieser bizarre Held zwischen Don Quichote und Che Guevara.

„Gottes Homepage“ ist ebenso grotesk wie erschreckend nah an der Zukunft. Oder der Gegenwart? Im Rückblick seines Protagonisten seziert Muszer die manipulativen Mechanismen des Informationszeitalters und die Perversion des Krieges, und er tut dies so komisch wie gnadenlos. Da ist zum Beispiel die Unterhaltung zwischen den beiden Schergen „Bruce“ und „Autoatlas“, bei dem Versuch, Gepin zum Ausheben eines Erdloches zu zwingen. Muszer entlarvt hier in tragikomischer Weise die ganze Sinnlosigkeit der Gewalt, unter der die Greueltaten der Einzelnen eine logische Folge der Möglichkeiten sind. „Gebt mir Nutella, dann gebe ich dir meine Bürgerrechte“ – so wie mit diesem Satz würzt Muszer die Handlung mit zahlreichen pointierten Sentenzen.

Immer wieder erscheint, für wie wenig der Mensch bereit ist, seine Existenz herzugeben. Und diese ist, spätestens nach der Lektüre von Dariusz Muszer, eine höchst absonderliche Angelegenheit.

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 24. April 2007
© Kersten Flenter

Dariusz Muszer: Gottes Homepage, Roman. A1 Verlag, München, 219 Seiten