Johannes Schulz: Ironische Endzeitballade

Gottes HomepageO-Ton:
„Wir schreiben das Jahr des Achtundachtzigsten Violetts. Früher, vor der Landung oder vor dem Herausschlüpfen, wie manche es bezeichnen, haben wir lediglich Zahlen verwendet, um den Verlauf der Zeit zu begreifen und unsere Ängste vor Zerfall und Tod zu verbergen. Jetzt gibt es keinen Tod mehr, und wir mischen Zahlen mit Farben. Mir gefällt das nicht besonders. Malern und Mathematikern darf man nie zu sehr vertrauen. Ich bin altmodisch wie Computer der vierten Generation oder eine Mehrwegflasche. Ich gestehe aber, dass es mir bisweilen Spaß macht, die neue Zeitbezeichnung zu gebrauchen. Insofern kann ich ohne Scham sagen: Ich bin hundertachtundzwanzig Jahre grau. Ein gefährliches Alter für einen Menschen, wie man weiß.“

Gospodin Gepin, ein ehemaliger Freischärler und Kriegsheld, ist einer der letzten Menschen auf der Erde, zusammen mit seiner Frau Freyja zieht er ins norwegische Exil, um seine Memoiren zu verfassen. Ein heikles Unterfangen auf einem Planeten, der von einem neundimensionalen Multiversum umgeben ist und der mehrheitlich von Klonen und Hologrammen bevölkert und von Außerirdischen, den Himmelblauen kontrolliert wird, die kein Interesse an einer korrekten Geschichtsschreibung haben.

O-Ton:
„Zweifelsohne ist ein solches Vorhaben eine riskante Sache, weil man nie weiß, was am Ende dabei herauskommt. Moderne Literatur wird anders geschrieben. Von vorneherein weiß man, wer der Gute und wer der Böse ist und was die Protagonisten sagen werden. Darüber hinaus gibt es in den Büchern genaue Angaben, wann und wie laut man lachen oder weinen soll und wie schnell eine Seite zu bewältigen ist. Alles ist vorgeschrieben, alles ein abgekartetes Spiel, das die Autoren und die Verleger, die eigentlich keine Autoren und keine Verleger mehr sind, mit den Lesern treiben. Denn es gibt Zensur. Nicht die institutionelle, staatliche Zensur, die früher bei den sogenannten undemokratischen Systemen beliebt war, sondern die, die in den Köpfen entsteht, wenn man zu viel auf einmal kriegt: die Zensur aus Gleichgültigkeit. Jede Gesellschaft ist im Grunde genommen totalitär und zensurverliebt. Meistens hat sie aber davon keine Ahnung.“

Dank seines unsterblichen Vaters, dem kalmückischen Kosmonauten Ruslan Ludminski, hatte Gepin schon im 21. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Kenntnis von der damals noch streng geheimen Homepage Gottes erhalten. Seither bedient er sich ihrer immer dann, wenn er den Ausgang eines gegenwärtigen Schlamassels in Erfahrung bringen will, denn logischerweise ist die Webside des höchsten Wesens aus der vollendeten Zukunft heraus gestaltet. Die Sache hat nur einen Haken, da alles schlechterdings mit allem zusammenhängt, ist von jeglicher Vorhersage auch das glatte Gegenteil möglich:

O-Ton:
„… Gottes Homepage dient nicht dazu, die reale, sondern die mögliche Zukunft kennen zu lernen. Alles, was darauf steht, ist nur eine Variation verschiedener Zufälle, die passieren können. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Leben, wenn nicht in dieser, dann in der parallelen Welt. Eine Eintagsfliege, die übers Wasser fliegt, hinterlässt Spuren, die für das Multiversum genauso bedeutend sind, wie die eines Raumschiffes oder eines Planeten, der um die Sonne kreist, oder die eines Universums, das sich von einem anderen Universum entfernt.“

In Dariusz Muszers drittem deutschsprachigem Roman „Gottes Homepage“ lebt der Protagonist und Icherzähler Gospodin Gepin in einer heiteren, oberflächlichen neuen Welt, dem Zeitalter des Regenbogens. Alles ist kostenlos, Arbeit abgeschafft, für Dienstleistungen sind unterschiedliche Qualitäten von Klonen zuständig, die wenigen Menschen können dank gelegentlicher organischer Runderneuerungen auf ein ewiges Leben hoffen.

Doch als Gepin mit seinen Memoiren beginnt, scheint sich seine vordergründig sichtbare Welt plötzlich buchstäblich in Luft aufzulösen, er selbst wird zunehmend zur Belastung für die Himmelblauen, die seine Lebenserinnerungen nur völlig zensiert und verändert veröffentlicht sehen wollen.
Dariusz Muszers ironische Endzeitballade einer schönen neuen Welt der Sorgenfreiheit und multiversalen Friede-Freude-Eierkuchens treibt auf die Spitze, was nach Klimakatastrophen, begrenzten Nukleareinsätzen und weltweiten Bürgerkriegen vom Planeten Erde übrig bleibt, nämlich eine weitgehend verfälschte und digitale Vorstellung einer für immer untergegangenen Artenvielfalt, einer Art Welt am Draht, die nach Bedarf jederzeit abgestellt oder umgepolt werden kann. Ein übler Traum, aus dem der Protagonist letztendlich nur mehr durch die universelle Kraft der Liebe entkommen kann. Muszers Buch ist aus jener Zukunft geschrieben, die uns Heutigen blüht, wenn sich nicht bald intelligente Lösungen für die großen Probleme des noch jungen Jahrhunderts entwickeln lassen. Wer das nicht glaubt, kann ja selbst mal versuchen, sich in Gottes Homepage einzuhacken. Wie das geht, ist in Dariusz Muszers gleichnamigem Roman nachzulesen, der soeben im Münchener A1 Verlag erschienen ist und für 19,80 Euro über jede gute Buchhandlung bezogen werden kann.

Literaturszene Hannover, 8.4.2007, Radio FLORA
© Johannes Schulz
© A1 Verlag

Dariusz Muszer: Gottes Homepage, Roman. A1 Verlag, München, 219 Seiten