Jan Gardemann: Azmari auf dem Schädelfeld

SchaedelfeldIn Äthiopien treibt seit vielen Generationen eine Azmaris genannte Kaste aus Wanderdichtern, Troubadouren und Vaganten ihr Unwesen. Öffentlich werden sie verachtet, insgeheim aber bewundert, insgesamt wegen ihrer Direktheit in der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit jedoch gefürchtet. Und weil Offensichtlichkeit langweilig und, wenn man in einem regressiven politischen System lebt, für das eigene Wohlergehen auch gefährlich sein kann, umhüllen sie die Wahrheit mit doppelsinnigen Wortspielen und Gleichnissen.

Der in Polen geborene und in Deutschland lebende Dariusz Muszer ist – im übertragenen Sinne – so ein Azmari. Wie diese Wanderbarden, so vermittelt auch er die Botschaften in seinen Gedichten und Romanen auf eine ihm eigene ästhetische Weise – und bedient sich dabei (besonders in seinen Romanen) einem Kodex, der im Vollen aus der phantastischen Literatur und der Science-Fiction schöpft. So ist auch sein neuer Roman „Schädelfeld“, erschienen im A1 Verlag, wieder ein Quell origineller Ideen und vielschichtiger Szenarien geworden und verleiht den beiden genannten Genres eine angenehme Frische und Progressivität. Muszer lässt den Leser am Überlebenskampf einer Gruppe teilhaben, die sich auf einer von den Menschen verwüsteten postapokalyptischen Parallelerde durchzuschlagen versuchen. Ohne Gnade schleudert Muszer den Leser in diese brutale Welt, die sich, je tiefer er den Leser in das facettenreiche Schicksal der Protagonisten hineinblicken lässt, mehr und mehr erschließt, bis sich am Ende ein komplexes Bild ergibt, das ebenso wahr wie schockierend ist. Grausamkeit ist in Muszers Roman jedoch kein Selbstzweck oder gar ein Stilmittel, um bei den Hartgesottenen für Spannung zu sorgen; Grausamkeit kommt in seinem Text deshalb vor, weil der Mensch eben grausam ist. Geschickt versteht Muszer es, die Schrecknisse unaufdringlich und unterschwellig humorvoll zu schildern und so auch erträglich zu machen. Wie seine Protagonisten, so bleibt Muszer beim Fabulieren stets menschlich und erschafft auf diese Weise „Helden“, die einem trotz ihrer schrägen Fehler und sublimen Schwächen nicht fremd werden können.

Jeder, der sich gerne in eine phantastische Welt der skurrilen Szenarien entführen lässt, in denen Protagonisten agieren, die durch ihre Vielschichtigkeit bestechen, sollte sich von Dariusz Muszer auf das Schädelfeld führen lassen – und sich dabei aber nicht wundern, wenn ihm dort Leichenschänder, Menschenfresser, Außerirdische und kybernetisch sowie gentechnisch veränderte Personen begegnen.

phantastisch!, 1(61): 2016
© Jan Gardemann