Helmut Höge: Total frustierte junge Männer über sich

Gründeln über die eigene existenzielle Sinnlosigkeit
im Spiegel wenig beachteter Emigrantenromane

Die seit 1989 anschwellende „Welle“ von Emigranten aus Osteuropa hat bereits zu einer eigenen Emigrantenliteratur geführt. Entweder schreiben diese meist jungen „Polen“ und „Russen“ auf Deutsch oder ihre Texte werden von Freunden übersetzt. Beispielsweise Christoph Maria Zoluski. Er arbeitet für einen Frankfurter Verlag an einer Anthologie junger in Deutschland lebender polnischer Autoren. Sein eigenes Buch „Das Bodensee-Tryptichon“, das in Polen viel Beachtung fand, wurde zwar inzwischen ins Deutsche übersetzt, hat jedoch noch keinen Verleger hier gefunden. Die ebenfalls inzwischen in Süddeutschland lebende russisch-jüdische Literaturkritikerin Olga Mannheimer gab ihm gegenüber nach der Lektüre zu bedenken, dass seine Offenherzigkeit den Neonazis Munition für ihre Ausländerfeindlichkeit liefern könnte.

Dies ließe sich auch über die zwei jüngst erschienenen Romane von Dariusz Muszer: „Die Freiheit riecht nach Vanille“ und von Timur Litanischwili: „Beichte eines verrückten Emigranten“ sagen.

Die beiden jungen Autoren Muszer (geboren 1959 in Westpolen) und Litanischwili (geboren 1966 in Moskau), kamen ebenfalls 1989 bzw. 1988 nach Deutschland. Muszer lebt in Hannover, Litanischwili in Berlin. Von gelegentlichen Jobs (als Abwäscher oder Werbezettelverteiler) abgesehen, beziehen sie Sozialhilfe. In depressiven Phasen sehen sie sich als Versager und Sozialschmarotzer. Die Absicht und das Vermögen, ein Buch über sich und ihren Lebenswandel zu schreiben, werden von ihnen mehrmals thematisiert. Timur Litanischwili hat dem Verlag anschließend sogar den Druck bezahlt: 2.800 Mark. Er bereut es inzwischen. „Die tun nichts, um es zu verkaufen. Ich habe ein gutes Produkt abgeliefert“, meint er, obwohl es nur eine zensierte Fassung ist: „Meine in Berlin lebende Schwester und meine Mutter hatten es zuerst gelesen und waren schockiert gewesen, ich habe deswegen die härtesten Seiten rausgeschmissen.“

Reden mit einem Leidensgenossen

Beide Autoren kämpfen mit der Sinnlosigkeit. Den einen überfällt sie in der Hannoveraner Einkaufs- und Pennerzone „Passerelle“, der andere geht überhaupt den Menschen aus dem Weg, höchstens dass er mal kurz im Prenzlauer Berg einen Puff besucht, wenn er das Geld dafür hat. Ansonsten haben beide verwickelte Onaniertechniken entwickelt. In ihren Büchern reden sie bisweilen mit einem Leidensgenossen, der ihnen – als letzter „Freund“ – verblieben ist. Insbesondere Litanischwili leidet darunter, dass Emigration und Armut ihn hier so unattraktiv machen, dass „die Frauen“ ihn eher meiden. Seine Enttäuschung richtet sich vor allem auf sie. Das trifft sich mit der Beobachtung vieler Prostituierter, dass die überwiegende Mehrzahl der Männer aus reinem Hass auf Frauen ein Bordell aufsucht. Muszer schildert eine Szene, in der seine von ihm später getrennt lebende Frau nach einem Streit weinend ins Nebenzimmer zu der gemeinsamen Tochter geht, die ebenfalls weint: „Ein Gedanke huschte mir durch den Kopf: Wenn zwei weinen, hört sich das gar nicht so schlecht an. Ich war wirklich ein Arschloch.“ Litanischwili schreibt: „Es stellte sich heraus, dass ich mein ganzes Leben lang alle Leute verscheißert hatte.“

Aber darum geht es den beiden Autoren gerade: die ganze Arschlochhaftigkeit ihrer Existenz herauszuarbeiten – ohne dabei Deutschland etwas zu schenken! Keine Peinlichkeit bzw. peinigende Wahrheit wird ausgelassen. Im Gespräch mit einem Beamten des Durchgangslagers Friedberg kommt es zu folgendem Dialog: „Nervös? Ungeduldig? Sie wollen doch rein.“ „Wie bitte?“ „Sie wissen schon, was ich meine. Sie wollen doch bei uns bleiben. Warum also machen Sie es sich schwerer, als es nötig ist?“ Die Frage dieses deutschen Beamten drängte sich beim Lesen der beiden Bücher auf.

Die Weihnachtszeit war voll im Gang: „Eine gute Zeit für Straßenmusiker und Warenhausbesitzer. Eine schlechte für frisch gebackene deutsche Arschlöcher wie mich“, schreibt Muszer aus Hannover. Es macht vielleicht gerade den Wert der Bücher aus, dass sie damit ihrem flüchtigen Leben auf den Grund gehen wollen, auch wenn es wahrscheinlich völlig grundlos ist. „Sie sind ein kleiner Spinner, der keine Ahnung hat, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen soll“, vermutet denn auch ein psychologisch geschulter Hannoveraner Kriminalbeamter bei Muszer. Litanischwili nimmt regelmäßig Psychopharmaka – gegen Depressionen und Aggressionen: Maprotilin, Dogmatyl. „Wenn du wüsstest, was für einen Stellenwert du bei mir hast“, diese Worte seiner Psychologin gingen ihm schließlich ins eine Ohr rein und beim anderen wieder raus. Man müsste mehr herumreisen – in andere Länder: „Vielleicht könnte man sich dort leichter adaptieren“, überlegt er, hier „wollen mich alle zwingen zu arbeiten.“ Und jeder Tag beginnt mit „Träumen von einer Frau … Mutterseelenallein nahm ich einen Stift in die Hand und schrieb ganz schnell mein böses, böses, bitterböses Büchlein, für das ich einen dicken, dicken Packen grüner Dollars bekommen würde, und für diese Dollars würde ich schöne, wunderschöne Frauen vögeln … Das Hauptthema meiner Gedanken ist mein Schicksal, das es nicht gut mit mir meint.“ Dariusz Muszer kommt nach einem vergeblichen Vorstellungsgespräch zu dem Urteil: „Deutlich und am eigenen Leib spürte ich, wie schwer es ist, in Niedersachsen ein Mann zu sein … Mich kann man doch nicht lieben, mich kann man nicht begehren! Es reicht, wenn man sich mein aufgedunsenes Gesicht oder meinen riesigen Bauch ansieht, ganz zu schweigen von meinem kleinen Pimmel.“

Rache-, Gewalt- und Heldenträume müssen das lädierte Selbstbewusstsein heilen. „Brennende Menschen liefen schreiend durch die Straßen und flehten um Gnade. Ungeduldig hielt ich den Finger am Drücker des Flammenwerfers“, berichtet Muszer. Litanischwili lässt die Presse über sich berichten: „alle Prostituierten von St. Pauli sind gleichzeitig gekommen. Es war eine virtuose Leistung des Piloten, der es schaffte, die ganze Reeperbahn auf einer Höhe von sieben Metern zu überfliegen und keinen Lebenden Leid anzutun.“ Die Berliner Psychologin Helgard Passow meint, dass besonders unter ihren männlichen Patienten das Gefühl existenzieller Sinnlosigkeit in erschreckendem Maße um sich greife.

Gewaltträume fürs Selbstbewusstsein

Ein weiterer Autor – in diesem neuen Genre Emigrantenliteratur: Der heute in Salzburg lebende Vladimir Vertlib (geboren 1966 in Leningrad) – versuchte dem dadurch zu entkommen, dass er sein Jüdischsein betont. Er hat bereits mehrere Texte auf Deutsch geschrieben. In seinem Buch „Zwischenstationen“ schildert er die Odyssee seiner Familie – von Wien nach Israel, Italien, USA und wieder zurück nach Wien: „Die Prozession zum Bahnhof hatte ihre ritualisierte Ordnung.“ Lange mochte er sich dabei nicht von seinen Kinderbüchern trennen: Sie erzählten „von der heilen Welt der jungen Pioniere … oder den Heldentaten von Revolutionären. Zwar wusste ich damals schon sehr wohl, dass es eine erfundene, ja erlogene Welt war … Der Partisanenjunge, der fast im Alleingang eine ganze deutsche Division gefangen nahm, war trotz allem mein Vorbild.“ Dennoch ist er – mehr als Muszer und Litanischwili – „ein Träumer und kein Kämpfer“, wie sein Vater es einmal ausdrückte. Während einer der vielen nächtlichen Fahrten im Zug erzählte der Vater ihm von der herrlichen Zukunft, die ihnen im nächsten Einreiseland blühen werde. Dabei wurde er immer euphorischer, trotz seiner Müdigkeit. Vertlib koloriert seine grauen „Zwischenstationen“ mit jüdischem Humor, wodurch er sich biografisch zwischen Über- und Unteridentifikation ausbalanciert. Dieses erzählerische Gefühl für Gleichgewicht ist den beiden Angry young Men Muszer und Litanischwili fremd, sie hauen lieber auf den Putz. Dennoch haben die Bücher dieser drei jungen Emigranten aus Osteuropa vieles gemeinsam. Und man weiß nicht: Bereitet sich eine Höllenmaschine vor oder schmiert sich ein folgsames Räderwerk ein?

Die Jungen darin wollen kein Opfer sein, sie wollen Tatmenschen, Täter sein.“Nein, mein Buch ist keine Kunst, keine Literatur,“ sagt – der „Südländer“ – Timur Litanischwili: „das ist eine Bombe, die früher oder später explodieren wird. Da bin ich ganz sicher.“

Dariusz Muszer: „Die Freiheit riecht nach Vanille“. A1-Verlag München 1999, 216 Seiten, 34 DM. 1996 erschien bereits sein Buch „Zwischen den Linien“.
Timur Litanischwili: „Beichte eines verrückten Emigranten – im Banne der ,Maja‘ „. Übersetzt von Holger Lange. Edition Amadis Berlin 1998, 144 Seiten, 24,80 DM
Vladimir Vertlib: „Zwischenstationen“. Deuticke-Verlag Wien 1999, 294 Seiten, 34 DM. 1995 erschien bereits sein Buch „Abschiebung“.

die tageszeitung Nr. 6031 vom 3.1.2000
© Helmut Höge, Contrapress media GmbH

LeserInnen-Kommentare

Keineswegs „total“, jedoch stark „frustriert“ über in Ihrem Hause ganz offensichtlich nachlassende journalistische Sorgfaltspflicht schreibe ich Ihnen diese Zeilen zu einem Kommentar von Helmut Höge in der taz Nr. 6031 vom 03.01.00.
Unter der Überschrift „Total frustrierte junge Männer über sich“ greift Ihr Kommentator sichtlich besorgt über „die seit 1989 anschwellende Welle von Emigranten aus Osteuropa“, über „Polen“ und „Russen“ (die Anführungszeichen finden sich bei Herrn Höge) – zu zwei Büchern, deren Autoren und deren Existenz er unverantwortlich und zynisch mit den Personen ihrer Romane gleichsetzt.
„Beide Autoren kämpfen mit der Sinnlosigkeit“, „sie wollen ihrem flüchtigen Leben auf den Grund gehen, auch wenn es wahrscheinlich völlig grundlos ist“, „nehmen regelmäßig Psychopharmaka“, „haben beide verzwickte Onaniertechniken entwickelt“, „beziehen, von gelegentlichen Jobs abgesehen, Sozialhilfe“, und deshalb „müssen Rache, Gewalt und Heldenträume das lädierte Selbstbewusstsein heilen“.
Auf die Autoren bezogen – ich kenne Dariusz Muszer als Autor unseres Verlages ein wenig genauer – sind diese Aussagen Schmutz und Lüge. Darüber hinaus ist dem Artikel Helmut Höges für den aufmerksamen Beobachter eine gewisse Nähe zum „Völkischen“ zu eigen, und seine resümierende rhetorische Frage „Bereitet sich hier eine Höllenmaschine vor oder schmiert sich ein folgsames Räderwerk ein?“ ist ein Appell an niedere politische Instinkte.
Sie werben um Abonnenten, um neue Leserinnen und Leser. Mit diesem Gesinnungs-Journalismus werden Sie diese allenthalben im Umfeld eines im Süden beheimateten Kampfblattes der „Rechten“ finden.
Streben Sie dieses an? Wollen Sie das wirklich?
Hochachtungsvoll,
Albert Völkmann – Al Verlag

Als Leser des Romans von Dariusz Muszer „Die Freiheit riecht nach Vanille“, muß ich dem/der verantwortlichen Redakteur/in mein Befremden über einen solchen Beitrag mitteilen, den ich von der (zugegeben ziemlich wirren) Aussagekraft eher in einem rechten Blättchen vermutet hätte. Abgesehen davon, daß Herr Höge von Literatur und Literaturkritik keinen blaßen Schimmer hat, versteigt er sich in Unterstellungen, die nicht nur peinlich sind, sondern für ihn auch noch juristische Folgen haben können, wenn er nämlich, als Folge seiner schwachen Literaturkenntnisse, die Figur eines Autors mit dem Autor verwechselt, bzw. gleichsetzt und Dariusz Muszer nachsagt, er beziehe Sozialhilfe und sähe sich als Versager und Sozialschmarotzer. Weil das so einfach ist und Herrn Höge da gar keine Zweifel plagen, unterstellt er es gleich beiden Autoren; ein Abwasch, ist ohnehin Pack. Ja, Höge weiß sogar von Muszers privaten Ehestreitigkeiten und seiner danach weinenden Frau und Tochter. Ich hatte nach der Lektüre von Muszers Roman manches Mißverständnis erwartet, aber auf die platten rassistischen Ausfälle eines Herrn Höge in der TAZ war ich nicht gefaßt. Man lernt eben immer noch dazu.
Ach, apropo Bombe, das Buch von Litanischwili, dem russischen Emigranten, ist nach Bekunden des Autors eine Bombe, die früher oder später explodieren wird und Herr Höge scheint das auch den LeserInnen der TAZ als Botschaft signalisieren zu wollen. Ein kleiner Tipp, bei Robert Musil findet sich im Nachlaß eine Geschichte, „Das Märchen vom Schneider“, dort rollt der Ich-Erzähler eine große Bombe, an der er sein Leben lang gearbeitet hat und mit der er seine Zeit in die Luft sprengen wollte und ruft, „ich muß damit meine Zeit in die Luft sprengen, weil sie mir nicht folgt Herr Höge sollte sich auf einer nächsten Interkulturellen Seite mal den Herrn Musil vorknöpfen und all die anderen Emigranten in der Literatur, denn der Österreicher Musil hat ja auch in Berlin geschrieben! Falls nicht Österreich für die TAZ schon wieder zum Großdeutschen dazu gehört.
Oskar Ansull

Liebe taz,
erspare uns doch in Zukunft literaturkritische Analphabeten wie Helmut Höge! Der kann ja nicht mal zwischen den Autoren der von ihm vorgestellten Romane und ihren Helden unterscheiden! Einen von den drei Romanen, die er unter dem Rubrum „Total frustrierte junge Männer über sich“ (!) vorgestellt hat – Dariusz Muszers „Die Freiheit riecht nach Vanille“ – habe ich grade gelesen und war auch dabei, als er für dieses Werk den Preis des Verbandes Deutscher Schriftsteller in Niedersachsen und Bremen bekommen hat. (Offenbar gibt es Jurys, die ein solches Buch sehr wohl einzuordnen und zu schätzen verstehen.) Mein persönlicher Eindruck: Der Autor ist ein sanfter, freundlicher und phantasievoller Mensch; sein Buch harte, manchmal unfreundliche, immer phantasievolle Lektüre. Man sollte die Dinge also nicht durcheinanderwerfen und Muszer mit seiner fiktiven Gestalt Naletik verwechseln.
Klaus Seehafer

Ignoranz und Arroganz – das ist was Helmut Höge in seinem Artikel preisgibt. Seine Kritik ist zynisch und menschenverachtend. Hochnäsig, aus der Festung Deutschland herab guckend, scheint er nicht zu verstehen, daß eine multikulturelle Gesellschaft aus ein bißchen mehr als einem Haufen frustrierter Ausländer besteht. Auch er selbst – ob er das will, oder nicht – ist ein Teil davon. Dieses Erkenntnis steht ihm aber noch bevor. Weniger Überheblichkeit und etwas mehr Sensibilität, wenn es sich um Gefühle eines Fremden handelt, könnte ihn vielleicht dabei helfen. Es ist offensichtlich, dass für Höge das Leben und Probleme der Ausländer in Deutschland eine terra incognita ist. Trotzdem erwarte ich von einen Kritiker, daß der Lektüre Reflexion folgt. Helmut Höge bevorzugt aber, sich an der Oberfläche aufzuhalten. Er verfälscht dabei die Tatsache, daß sich z.B. bei dem Buch Muszers „Die Freiheit riecht nach Vanille“ keineswegs um den Autor, einen „frustrierten Pseudointellektuellen aus dem Osten“ handelt, (der noch dazu auf Kosten des deutschen Steuerzahlers sein Unwerk betreibt, was Höge zu Verstehen gibt) und eigentlich auch nicht um seinen Held. Vielmehr geht es um die Zustände in der deutschen Gesellschaft, mit denen sich schon längst gerade Deutschen und nicht nur die Einwanderer auseinandersetzen sollten. Und die Tatsache, dass zwei ausländische Autoren unabhängig von einander auf dieselbe Phänomene aufmerksam machen, mag vielleicht kein Zufall sein …
Katarzyna Weintraub

Es ist sehr zu begrüßen, wenn Helmut Höge in seinem Beitrag das Augenmerk einmal auf die Bücher von osteuropäischen Schriftstellerkollegen lenkt, die seit Jahren in Deutschland leben und schreiben und die Literatur hierzulande bereichern.
Leider unterläuft ihm dabei ein fataler Irrtum, wie er in der deutschen Literaturkritik dieser Jahre (wenn man sie als solche noch bezeichnen will) immer weiter um sich greift.
Höge setzt die Biografie der Autoren durchgehend ineins mit ihrem fiktionalen Personal. Er redet über Romane, als seien es Sozialreporte von gescheiterten Randexistenzen – und eben nicht Literatur.
Ich kenne Dariusz Muszer seit Jahren und schätze ihn als einen der besseren Kollegen (ohne jeden Polen-Rabatt). Ihn mit seiner Romanfigur Naletnik zu identifizieren, zerstört seine literarische Arbeit, und gleichzeitig beschädigt es die Person des Autors. Dariusz Muszer hat (anders als sein literarischer Held) niemals Sozialhilfe bezogen. Und was die „Arschlochhaftigkeit seiner Existenz“ angeht: sie ist gewiß um keinen Deut größer als die eines jeden von uns ordentlichen Deutschen.
Michael Zeller

H. Höge fängt seine unprofesionelle, aggressiv anmutende und nicht zuletzt peinliche “Literaturkritik” (die TAZ vom 3.1.2000) mit einem Hinweis auf die seit 1989 anschwellende Emigrationswelle von meist jungen “Polen” und “Russen”, die es sich anmaßen, auf Deutsch zu schreiben. Es kommt Herrn Höge nicht in den Sinn, daß es talentierte Autoren und eine sozial engagierte Literatur außerhalb der Reichweite seines Schreibtischs geben kann. Dariusz Muszer wurde sowohl in Polen als auch bereits in Deutschland mit Literaturpreisen geehrt.
Dieselbe Emigrationswelle, die das gekonnt lesende Volk in diesem Lande mit den besprochenen und weiteren “Emigrantenromanen” (H.H.) beschert, hat übrigens viele verschiedene Menschen, darunter auch mich – eine Polin ohne Anführungszeichen – 1989 nach Deutschland gebracht. Es ist doch erwartungstreu, daß uns Emigrations­erfahrungen mündig machen.
“Junge Emigrantin aus Osteuropa”
Dr. Sylwia Wilberg

Nun glaubt man eigenen Augen nicht. Irgendwann hat – so denkt man – jeder Literaturkritiker in der Schule eine Buchkritik geübt. Er muß gelernt haben, einen Roman von einer Autobiographie zu unterscheiden. So müßte er auch wissen, daß sogar eine Autobiographie – besonders die eines Schriftstellers – mit Vorsicht zu genießen ist, denn das Fabulieren gehört zur literarischen Werkstatt. Die Ichform ist eine bekannte Erzählperspektive. Wie kommt man nach der Lektüre des Romans „Die Freiheit riecht nach Vanille“ darauf, daß ein „frustrierter“ Autor über sich selbst schreibt? Ich vermute, daß Herr Höge nicht vom Fach ist. Aber auch wenn er aus der Sportredaktion kommt, sind seine Ansichten für einen Aufmerksamen Buch- und Zeitungsleser sehr interessant.
Ob sich alle besprochenen Werke in den Topf „Emigrantenliteratur“ stecken lassen, bezweifele ich, genauso wie man es schwer mit den Werken von Conrad, Nabokov, Brodsky, Rushdie, Walcott, Makine tun kann. An sich übriges nichts abwertendes, eignet sich der Begriff als Suchwort in Karteien der Bibliotheken. Unzweifelhaft entstand und entsteht aus der gewollten oder ungewollten Verzahnung der Kulturen eine frische Literatur, längst als Segen für die lesende Welt erkannt. So geschieht nun endlich in Deutschland. In jedem Fall kam ich nicht auf den Begriff nach der Lektüre von „Die Freiheit riecht nach Vanille“.
Der Roman soll möglicherweise – wie die anderen besprochenen Bücher – Munition für Neonazis liefern: Durch Offenherzigkeit. Das ist schwer zu verstehen. Mir scheint es, daß die Neonazis durch die Kleinherzigkeit, mit der man ihr Phänomen hier behandelt, zu dem geworden sind, was sie sind. Aber durch erzählerischen Mut?
Herr Höge rezensiert sarkastisch. Er nimmt Psychologie zur Hilfe (Sexualberatung?) und im gutem Glauben, ein Protagonist ist nichts anderes als Autor, entdeckt die schrecklichen Abgründe der Autorenexistenz – mit besonderem Augenmerk auf ihre morbide Gelüste. Es ist peinlich. Stellen Sie sich vor, der Rezensent bekommt das Buch „Timbuktu“ von Paul Auster in die Hände, konsultiert auf Hundepsychologie spezialisierte Tierärzte und zieht so unfaßbare Rückschlüsse auf das Dasein des Autors, der als Ich-Erzähler aus der Sicht eines Hundes schreibt.
Mit dem Begriff „Diletantismus“ wäre eigentlich der Kommentar gerecht abgetan, wenn da nicht etwas besonderes spürbar wäre.
Keine „peinigende Wahrheit“ wird ausgelassen – und das ohne dabei Deutschland etwas zu schenken, steht es in dem Kommentar. Man kann es lange umkreisen, mir fällt aber das Wort „Abneigung“ ein. Der deutsche Beamte aus dem Übergangslager in Friedland Osteuropa wird nicht zufällig zitiert. Sie wollten hier doch bleiben, die „Emigranten“, die hier eigentlich sowieso keine Verlage finden, dafür aber Sozialhilfe beziehen, sich in depressiven Phasen als Versager und Sozialschmarotzer sehen und die ganze Arschlosigkeit ihrer Existenz (der Autoren, nicht der fiktiven Helden! – so der Rezensent) herausarbeiten bzw. dem durch Jüdischsein dem zu entkommen versuchen .. und jetzt, so muß man es verstehen, beklagen sich noch laut. Wenn das eine Aussage über die literarische Qualität eines zu besprechenden Literaturwerkes ist…
Ja, es ist dennoch eine Aussage. Es ist eine Bereicherung der deutschen Literatur im Gange, durch eine unmittelbare Sprache, die die Sachen bei Namen nennt, weil die Autoren und Autorinnen sie von außen und von ihnen gesehen und erfahren haben. Sie wird ernst genommen, sonst würde man sich kaum die Mühe geben, sie zu rezensieren. Diese Literatur geht souverän und aufrecht durch Höhen und Tiefen, gewinnt Preise („Die Freiheit riecht nach Vanille) und wird gelesen – und ist daher manchen nicht geheuer, die sich nicht mehr als große Onkel für den deutschen und nicht deutschen Osten fühlen können. In dem Kommentar von Herrn Höge ist dieses Unbehagen unverkennbar. Autoren wie Dariusz Muszer beherrschen meisterhaft ihre Werkstatt und werden uns hoffentlich keine noch so peinigende Wahrheit ersparen. Eine „Höllenmaschine“ bereitet sich, wenn man das so nennen will, vor; man kann gespannt sein.
In einem Gedicht von Enzensberger heißt es: Wirf das Buch fort und lies! Ich bitte die TAZ-Redaktion den Buchkritiken mehr Beachtung zu schenken. Sonst dürfte es heißen: Wirf die TAZ weg und lies!
Marek Benczewski

Liebe taz-Redaktion,
daß die taz vom Pfad der linken Tugenden abgekommen ist, ist bekannt. Daß sie aber jemals so weit nach rechts abgleiten könnte wie in Höges Beitrag zur Migrantenliteratur, haben wohl nicht einmal ihre ärgsten Feinde zu hoffen gewagt. Hier tun sich ganz neue Bruderschaften auf Man sollte die neuen Geistesverwandtschaften flugs nutzen, denn die alten werden bei weiteren Artikeln dieses Kalibers bald in die Brüche gehen. Das tut deshalb weh, weil die taz von Anfang an für eine hervorragende Recherche in ihrer Polenberichterstattung bekannt war, Namen wie Gabriele Lesser garantierten eine ausgezeichnete Sachkenntnis und Feder. Die taz hat einen Ruf zu verlieren.
Und nun das. Eine Rezension derartigen literarischen Unverstands wie die von Helmut Höge ist mir selten unter die Augen gekommen. Der Beitrag ist schlampig recherchiert, inkompetent, dumm, böswillig und das vielleicht schlimmste: Er versteht es nicht, Literatur als Kunstwerk, als Fiktion, zu lesen. Oder genauer: Er will es nicht. (…)
Ursula Kiermeier